BAG, Urteil vom 18.11.2021, 2 AZR 138/21
Leitsatz (amtlich)
Der Arbeitgeber hat grundsätzlich ein neuerliches bEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als 6 Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war.
Sachverhalt
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem Jahr 2001 beschäftigt. Im Jahr 2017 war er an 40 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt, im Jahr 2018 an 61 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an 103 Arbeitstagen. Am 5.3.2019 führten die Parteien ein Gespräch zur Durchführung eines BEM- Verfahrens. In dem auch vom Kläger unterzeichneten Erhebungsbogen vom selben Tag war u. a. angegeben, dass kein "zusätzlicher Sachverständiger (z. B. Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitsschutz/Arbeitssicherheit)" eingebunden werden solle. Nach dem 5.3.2019 war der Kläger erneut, und zwar bis zur Kündigung, an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 26.2.2020. Dagegen hat sich der Kläger mit seiner Klage gewandt.
Die Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg.
Das BAG entschied, dass die Kündigung der Beklagten unverhältnismäßig und damit sozial ungerechtfertigt i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sei; denn die Beklagte habe nicht dargetan, dass keine zumutbare Möglichkeit bestand, die Kündigung durch mildere Maßnahmen zu vermeiden.
Das Gericht führte zunächst in Anlehnung an seine gefestigte Rechtsprechung aus, dass der darlegungs- und beweispflichtige Arbeitgeber sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken dürfe, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere geeignete Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, dann müsse er darlegen und beweisen, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Auch wenn die Durchführung eines bEM nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung sei, konkretisiere § 167 Abs. 2 SGB IX den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da mit Hilfe eines bEM mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden könnten. Habe der Arbeitgeber nicht gänzlich davon abgesehen, ein bEM anzubieten, seien ihm jedoch dabei oder bei der weiteren Durchführung Fehler unterlaufen, hänge es für den Umfang seiner Darlegungslast davon ab, ob der Fehler Einfluss auf die Möglichkeit hatte oder hätte haben können, Maßnahmen zu erkennen, die zu einer relevanten Verringerung der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Arbeitnehmers hätten führen können.
Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass die Beklagte hätte darlegen müssen, dass auch durch die Durchführung eines (weiteren) bEM keine milderen Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten festgestellt oder entwickelt werden können; denn sie war nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet gewesen, die Initiative für ein (erneutes) bEM zu ergreifen, selbst wenn sie bereits am 5.3.2019 ein bEM mit dem Kläger durchgeführt haben sollte. Dieser Verpflichtung war sie nicht nachgekommen.
Das Gericht führte hierzu aus, dass der Arbeitgeber gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX grundsätzlich ein weiteres bEM durchzuführen habe, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als 6 Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen sei.
Für diese Auslegung spreche bereits der Gesetzeswortlaut; denn die Formulierung "Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig" lege nahe, den zeitlichen Rahmen "innerhalb eines Jahres" so zu verstehen, dass die Arbeitsunfähigkeit von länger als 6 Wochen lediglich innerhalb des zurückliegenden Jahreszeitraums aufgetreten sein muss. Zwar lasse der Gesetzestext auch ein Verständnis zu, "innerhalb eines Jahres" als Mindestbetrachtungszeitraum zu sehen, sowohl bevor erstmalig ein bEM durchgeführt werden muss als auch vor einer Verpflichtung zur Durchführung eines erneuten bEM, gerechnet ab dem Abschluss des zuvor durchgeführten. Gegen die 2. Auslegung spreche jedoch Sinn und Zweck des bEM, durch eine geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern.
Erkrankt der Arbeitnehmer nach Abschluss eines bEM somit erneut innerhalb eines Jahres für mehr als 6 Wochen, sei grundsätzlich erneut ein Bedürfnis für die Durchführung eines bEM gegeben.
In seinem Urteil hat sich das BAG zudem mit der Frage befasst, wann ein bEM abgeschlossen sei.
Das Gericht führte hierzu aus, dass das Gesetz das bEM nur rahmenmäßig als einen verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess regele, ohne explizit vorzusehen, wann der Suchprozess abgeschlossen ist. Jedoch sei ein bEM jedenfalls dann abgeschlossen, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig...