EuGH, Urteil vom 9.9.2021, C-107/19
Wird dem Arbeitnehmer eine Reaktionsfrist von nur wenigen Minuten eingeräumt, ist die Bereitschaftszeit grundsätzlich in vollem Umfang „Arbeitszeit".
Sachverhalt
Die Parteien streiten vor den nationalen Gerichten über die Höhe der Vergütung für die Tätigkeit des Arbeitnehmers als Betriebsfeuerwehrmann. Die tägliche Arbeitszeit des Arbeitnehmers enthielt 2 Essens- und Ruhepausen von jeweils 30 Minuten, während dieser der Arbeitnehmer nicht ersetzt wurde, sondern über ein Funkgerät für den Fall eines Einsatzes erreichbar war, damit er seine Pause unterbrechen und sich innerhalb von 2 Minuten zum Einsatzfahrzeug begeben konnte. Die Ruhepausen wurden auf seine Arbeitszeit nur angerechnet und vergütet, wenn sie von einem Einsatz unterbrochen wurden. Der Kläger war der Ansicht, dass auch die nicht unterbrochenen Ruhepausen als Arbeitszeit zu vergüten seien.
Das nationale Gericht legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor. Es wollte u. a. wissen, ob Pausenzeiten, in denen der Arbeitnehmer im Fall eines plötzlichen Einsatzes innerhalb von 2 Minuten zur Verfügung stehen muss, als "Arbeitszeit" i. S. d. Art. 2 RL 2003/88/EG anzusehen seien und ob es hierbei eine Rolle spiele, dass die Unterbrechung der Pause bloß zufällig und unvorhersehbar sei.
Die Entscheidung
Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass Vergütungsfragen grundsätzlich nicht unter die Arbeitszeitrichtlinie fielen; allerdings könne dies anders sein, wenn die Frage der Vergütung mittelbar davon abhänge, wie diese rechtlich zu bewerten sei.
Weiter führte der EuGH führte aus, dass Bereitschaftszeit (nach deutschem Rechtsverständnis auch Rufbereitschaft) entweder "Arbeitszeit" oder "Ruhezeit" i. S. d. RL 2003/88/EG sein könnten – es gebe hierbei keine Zwischenkategorie. Auch solche Zeiten der Bereitschaftszeit, in denen der Arbeitnehmer für den Arbeitgeber tatsächlich nicht tätig werde, könnten als "Arbeitszeit" und müssten nicht zwingend als "Ruhezeit" eingestuft werden, beispielsweise dann, wenn der Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit verpflichtet sei, zur sofortigen Verfügung des Arbeitgebers an seinem Arbeitsplatz zu bleiben und sich somit außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten müsse und weniger frei über seine Zeit verfügen könne. Auch liege nach Auffassung des EuGH "Arbeitszeit" dann vor, wenn der Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit zwar nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben müsse, jedoch die ihm von seinem Arbeitgeber auferlegten Einschränkungen erhebliche Auswirkungen auf seine persönlichen und sozialen Interessen haben. Dagegen liege keine "Arbeitszeit" vor, wenn es dem Arbeitnehmer möglich sei, seine persönlichen und sozialen Aktivitäten zu planen.
Somit erfasse der Begriff "Arbeitszeit” i. S. d. Art. 2 RL 2003/88/EG sämtliche Bereitschaftszeiten, und damit auch Ruhepausen, in denen dem Arbeitnehmer Einschränkungen solcher Art auferlegt werden, die seine Möglichkeit, die Zeiten, in denen seine Leistung nicht in Anspruch genommen werde, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen. Wenn wie im vorliegenden Fall dem Arbeitnehmer eine Reaktionsfrist von nur wenigen Minuten eingeräumt werde, dann stelle dies grundsätzlich in vollem Umfang „Arbeitszeit" dar; denn dann werde der Arbeitnehmer weitgehend davon abgehalten, irgendeine auch nur kurzzeitige persönliche Aktivität zu planen.