Rz. 5
§ 4 verknüpft das "soziale Recht" behinderter Menschen auf Sozialleistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit den Ansprüchen, die im SGB IX sowie in den für die einzelnen Rehabilitationsträger geltenden besonderen Vorschriften geregelt sind.
Die Leistungen zur Teilhabe umfassen nach dem Gesetzeswortlaut die notwendigen Sozialleistungen zur Teilhabe. Bei den "notwendigen Sozialleistungen" i. S. v. § 4 Abs. 1 handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Betroffenen, welcher in Grenzfällen nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält.
Die Entscheidung für die Lösung muss fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu beschränken,
- ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden,
- ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und
- ob die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden
(vgl. BVerwG, Urteil v. 24.6.1999, 5 C 24/98).
Das Vorliegen eines unbestimmten Rechtsbegriffs genügt nicht, um von einem Beurteilungsspielraum auszugehen. Es spricht indes nichts dafür, dass der Gesetzgeber durch den Begriff der "notwendigen Sozialleistungen" in § 4 Abs. 1 der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum einräumen wollte (vgl. SG Osnabrück, Urteil v. 3.11.2011, S 5 SO 97/11).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, bis zu welchem Grad der Zielerreichung die Rehabilitationsträger die Teilhabeleistungen "notwendig zu finanzieren" haben. Muss also z. B. ein beinamputierter Mensch von den Rehabilitationsträgern immer sofort die neueste und beste auf dem Markt befindliche Beinprothese finanziert erhalten? Ist von den Rehabilitationsträgern immer der höchste Leistungsaufwand zu betreiben, um eine soziale Gleichstellung mit einem gesunden Menschen zu erreichen? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zu unterscheiden zwischen
- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Rz. 5a bis 5c),
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und (Rz. 6 und 6a) und
- Leistungen zur sozialen Teilhabe (Rz. 7).
2.3.1 Notwendige Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Rz. 5a
Die Teilhabeleistungen, die der Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse des Menschen dienen (sehen, hören, sprechen, fortbewegen, sitzen; ferner: Nahrungsaufnahme einschließlich Ausscheidung, Körperpflege, Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten sowie Ausübung eines Berufs zur Finanzierung des Lebensunterhaltes) nehmen bei einem Menschen einen hohen Stellenwert ein. Wegen dieses hohen Stellenwertes muss das Ziel der Teilhabeleistungen so definiert werden, dass unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Betroffenen (gesundheitliche Ressourcen einschließlich individueller Kontextfaktoren im Zusammenhang mit dem jeweiligen Teilhabebedarf) bei der zukünftigen Teilhabe ein möglichst hoher Befriedigungsgrad erreicht werden kann.
Das BSG hat mit Urteil v. 3.11.2011 (B 3 KR 4/11 R) zusammengefasst, unter welchen Voraussetzungen der Teilhabebedarf bei der medizinischen Rehabilitation bis zu welchem Umfang zu befriedigen ist. Nachstehend sind einige Auszüge aus der Urteilsbegründung in Bezug auf die Leistungsansprüche eines nicht mobilen Menschen aufgeführt:
Grundsätzlich bemisst sich die Leistungspflicht … danach, ob ein Hilfsmittel zum unmittelbaren oder zum mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht wird. Im Vordergrund steht zumeist der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst, wie es z. B. bei Prothesen, Hörgeräten und Sehhilfen der Fall ist. Bei diesem sog. unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Daher kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. ... Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Fall hat die GKV nur für den Basisausgleich einzustehen; es geht dabei nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines nicht behinderten Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um...