BAG, Urteil vom 8.12.2022, 6 AZR 31/22
Die soziale Auswahl bei einer betriebsbedingten Kündigung hat anhand der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO genannten Kriterien zu erfolgen. Bei der Gewichtung des Lebensalters kann hierbei zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits – mit Ausnahme einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen – eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht oder dass er rentennah ist, weil er eine abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von 2 Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann.
Sachverhalt
Die im Jahr 1957 geborene Klägerin war seit 1972 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Nachdem ein Insolvenzverfahrens eröffnet worden ist, schloss der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte mit dem Betriebsrat 2 Interessenausgleiche mit Namensliste. Dieser sah die Kündigung von 61 der 396 Beschäftigten vor, u. a. auch der Klägerin, die dann auch mit Schreiben vom 27.3.2020, und Ende Juni erneut hilfsweise, vom beklagten Insolvenzverwalter gekündigt wurde. Er begründete dies damit, dass die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigsten schutzwürdig sei; denn sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 1.12.2020 – und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis – eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen.
Die Klägerin erhob gegen diese Kündigungen Kündigungsschutzklage.
Die Entscheidung
Während die Klage vor dem ArbG und LAG erfolgreich war, hatte die Revision des beklagten Insolvenzverwalters vor dem BAG teilweise – im Hinblick auf die 2. Kündigung– Erfolg.
Das BAG entschied, dass die 1. Kündigung unwirksam sei. Allerdings durften die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium "Lebensalter" berücksichtigen. Es begründete dies mit Sinn und Zweck der sozialen Auswahl. Unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien sei gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig sei. Hierbei sei das Auswahlkriterium "Lebensalter" ambivalent. Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Sie falle jedoch dann wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von 2 Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen könne oder über ein solches bereits verfüge, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters beziehe. Und diese Gesichtspunkte könne nach Auffassung des BAG der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium "Lebensalter" zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen, da insbesondere auch § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum eröffne.
Da bei der 1. Kündigung der Klägerin nur ihre Rentennähe berücksichtigt worden war und andere Auswahlkriterien wie "Betriebszugehörigkeit" und "Unterhaltspflichten" unberücksichtigt geblieben sind, war diese unwirksam.