BAG, Urteil vom 29.4.2021, 6 AZR 232/17
Leitsätze (amtlich)
1. Die bei der Stufenzuordnung anlässlich einer Einstellung in § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L vorgesehene, anders als in Satz 2 dieser Tarifnorm, auf die Stufe 3 begrenzte Anrechnung einschlägiger Berufserfahrungszeiten verstößt gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 Abs. 1 AEUV und ist unanwendbar, soweit der Arbeitnehmer diese Erfahrung in einem vorherigen Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat und damit im Anwendungsbereich des Unionsrechts erworben hat. Solche Berufserfahrungszeiten sind uneingeschränkt zu berücksichtigen.
2. Hat der Arbeitnehmer die einschlägige Berufserfahrung ausschließlich in einem vorherigen Arbeitsverhältnis zu einem anderen inländischen Arbeitgeber erworben, verbleibt es hingegen bei der Nichtberücksichtigung dieser Zeiten gem. § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L, soweit sie über 3 Jahre hinausgehen. Der differenzierten Behandlung dieser unterschiedlichen Sachverhalte sowohl innerhalb des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L als auch im Verhältnis zu Satz 2 dieser Tarifnorm stehen weder Unionsrecht noch nationales Verfassungsrecht entgegen.
Sachverhalt
Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich an verschiedenen Collèges-Lycée in den Klassen 6 bis 12 als Lehrerin tätig. Danach trat sie zum 8.9.2014 als Lehrerin in den Schuldienst des beklagten Landes. Der TV-L fand hierbei Anwendung. Zwischen den Arbeitsverhältnissen lag eine Unterbrechung von weniger als 6 Monaten.
Da das beklagte Land die in Frankreich erworbene Berufserfahrung der Klägerin als einschlägig ansah, wurde sie bei der Einstellung der Stufe 3 der EG 11 TV-L zugeordnet und stieg im September 2017 regulär in die Stufe 4 auf. Bereits im Oktober 2014 hatte sie jedoch Entgelt nach der Stufe 5 ab dem Tag ihrer Einstellung geltend gemacht, was das beklagte Land jedoch ablehnte.
Die Klägerin, die die Ansicht vertreten hatte, die Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TV-L verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG und die unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeitsbestimmungen in Art. 45 AEUV sowie Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011, klagte auf Entgelt nach der Stufe 5.
Das beklagte Land hatte dagegen beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat die Ansicht vertreten, dass die in § 16 Abs. 2 TV-L enthaltene, auf der Staatsangehörigkeit beruhende mittelbare Benachteiligung gerechtfertigt sei, da die Regelung in zulässiger Weise bezwecke, den Besitzstand insbesondere zuvor beim selben Arbeitgeber befristet Beschäftigter zu wahren.
Das BAG hatte in diesem Verfahren den EuGH um die Beantwortung einer Frage zur Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ersucht, worüber dieses mit Urteil vom 23.4.2020 (– C-710/18 –) entschieden hatte.
Die Entscheidung
Die Klage auf Bezahlung nach der Stufe 5 ab Einstellung hatte nun vor dem BAG Erfolg.
Das Gericht entschied, dass im Anwendungsbereich des Unionsrechts die bei einem anderen Arbeitgeber im Ausland erworbene einschlägige Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung anlässlich einer Einstellung in vollem Umfang zu berücksichtigen sei; denn die in § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L enthaltene Begrenzung auf 3 Jahre, soweit einschlägige Berufserfahrung in einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber erworben wurde, ist mit Art. 45 Abs. 1 AEUV nicht vereinbar und deshalb unanwendbar, was der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens entschieden hatte. Begründet wurde dies damit, dass die in § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L vorgesehene Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 Abs. 1 AEUV ungerechtfertigt einschränke, soweit sie lediglich im Umfang von 3 Jahren erfolgt. Ein wie hier vorliegendes tarifliches System dürfe jedoch nicht zur Diskriminierung von Arbeitnehmern, die die Freizügigkeit in Anspruch nehmen, führen, so dass jegliche Differenzierung zwischen Zeiten einschlägiger Berufserfahrung danach, ob sie im Inland bei demselben Arbeitgeber oder im Ausland bei einem anderen Arbeitgeber erworben wurden, ausgeschlossen. Denn die Begrenzung der Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung sei geeignet, die Inanspruchnahme der Grundfreiheit unter Verstoß gegen Art. 45 Abs. 1 AEUV weniger attraktiv zu machen.
Folge sei nun, so das Gericht weiter, dass sämtliche von dem betreffenden Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten einschlägigen Berufserfahrungszeiten zu berücksichtigen seien, wobei auch etwaige angebrochene Stufenlaufzeiten erhalten bleiben müssten; nur so könne eine Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit vermieden und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet werden.
Das BAG führte danach weiter aus, dass sich auf die Unanwendbarkeit der Begrenzung der Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrungszeiten jedoch nicht die Arbeitnehmer berufen könnten, die a...