Der kollidierende Minderheitstarifvertrag wird grundsätzlich vollständig verdrängt, doch ist die Verdrängungsregelung nach der Entscheidung des BVerfG restriktiv auszulegen und die Verdrängungswirkung mehrfach beschränkt.
Überblick:
- Tarifvertraglich garantierte Leistungen besonderer Qualität (z. B. zur Alterssicherung) müssen gegenüber der Verdrängungswirkung Bestand haben, um unzumutbare Härten zu vermeiden.
- Kommt es zur Verdrängung eines Tarifvertrags, lebt dieser grundsätzlich wieder auf, wenn der verdrängende Tarifvertrag endet.
- Die Regelung des § 4a Abs. 4 TVG zum Anspruch auf Nachzeichnung, der den durch die Verdrängung erlittenen Rechtsverlust teilweise ausgleichen soll, ist entsprechend dem Umfang der Verdrängung weit auszulegen (Näher hierzu unten 3.4).
- Werden die Vorgaben einer Bekanntgabe von Tarifverhandlungen im Betrieb nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG und einer Anhörung konkurrierender Gewerkschaften nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG verletzt, liegen die Voraussetzungen der Verdrängung nicht vor (Näher hierzu oben 3.2).
- Das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG ist so zu führen, dass die Mitgliederstärke der Gewerkschaften nach Möglichkeit nicht offengelegt wird (Näher hierzu oben 3.1).
Verdrängung des Minderheitstarifvertrags kraft Gesetzes, auch ohne arbeitsgerichtliches Verfahren
Das BVerfG stellt unter Verweis auf die arbeitsrechtliche Literatur fest, dass die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nach derzeit wohl überwiegender Auffassung kraft Gesetzes einsetzt, sobald es zur Tarifkollision kommt.
Die Verdrängung ist danach nicht von einer Feststellung des Arbeitsgerichts nach § 99 ArbGG abhängig. Die Tarifvertragsparteien haben es demnach nicht in der Hand, die Verdrängungswirkung dadurch zu vermeiden, dass sie keinen Antrag nach § 99 ArbGG stellen.
Eine gerichtliche Entscheidung dazu, welcher Tarifvertrag in einem Betrieb als von der Mehrheitsgewerkschaft geschlossen zur Anwendung kommt, kann vielmehr ohne Zutun der Tarifvertragsparteien im arbeitsrechtlichen Individualrechtsstreit erfolgen (so BVerfG, Rn. 175).
Die Verdrängungswirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist nach Auffassung des BVerfG nach deren gesetzlichen Ausgestaltung mehrfach beschränkt.
§ 4a Abs. 2 Satz 2 TVG regelt die Verdrängung des kollidierenden Tarifvertrags der Minderheitsgewerkschaft, soweit eine Überschneidung mit dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft in räumlicher, zeitlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht vorliegt.
Vollständige Verdrängung des Minderheitstarifvertrags
Soweit der Mehrheitstarifvertrag in demselben Betrieb für die gleiche Berufsgruppe Regelungen des Arbeitsverhältnisses enthält, die mit nicht inhaltsgleichen Regelungen des Minderheitstarifvertrags kollidieren, wird der Minderheitstarifvertrag grundsätzlich insgesamt, also nicht beschränkt auf den Kollisionsbereich, verdrängt. Die Anwendung der Kollisionsregel setzt nach der Entscheidung des BVerfG nicht voraus, dass sich die Regelungsgegenstände der sich persönlich überschneidenden Tarifverträge völlig decken.
Für betriebsverfassungsrechtliche Normen ist die Sonderregelung in § 4a Abs. 3 TVG zu beachten. Betriebsverfassungsrechtliche Normen werden nicht verdrängt, wenn sie zwar im Minderheitstarifvertrag geregelt sind, der Mehrheitstarifvertrag dazu aber keine Aussage trifft. Dies soll die Kontinuität tarifvertraglich geschaffener betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungsstrukturen sichern (vgl. BT-Drucks. 18/4062, S. 14).
An die Friedenspflicht des verdrängten Tarifvertrags sind die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft aber weiterhin gebunden.
Soweit hingegen keine Überschneidung im persönlichen Geltungsbereich zweier Tarifverträge vorliegt, besteht keine Tarifkollision. Es gelten dann beide Tarifverträge jeweils für die Personen, für die nur sie Regelungen getroffen haben.
Keine Tarifkollision bei Abgrenzung des persönlichen Geltungsbereichs der Tarifverträge
Die eindeutige Abgrenzung des persönlichen Geltungsbereichs – ohne Überschneidungen mit abweichenden Tarifregelungen einer konkurrierenden Gewerkschaft – könnte somit ebenfalls eine Tarifkollision vermeiden bzw. beseitigen. Denkbar wäre betreffend das Tarifrecht im öffentlichen Dienst insoweit zumindest theoretisch, dass der TVöD/TV-L dahingehend geändert wird, dass die Regelungen keine Anwendung finden auf Ärztinnen und Ärzte. Ob dies realistisch erscheint, bleibt offen und darf bezweifelt werden.
Die Regelung des § 4a Abs. 2 TVG ist nach der Entscheidung des BVerfG (Rn. 189) in der Weise auszulegen, dass eine Verdrängung nur solange andauert, wie der verdrängende Tarifvertrag läuft. Der verdrängte Tarifvertrag lebt folglich für die Zukunft wieder auf, wenn die Laufzeit des verdrängenden Tarifvertrags endet.
Wiederaufleben des verdrängten Minderheitstarifvertrags
Aufgrund der zeitlich begrenzten Verdrängung kann ein Hin- und Herwechseln zwischen den kollidierenden Tarifverträgen, z. B. nach Kündigung des Mehrheitstarifvertrags, ni...