Das BVerfG hat im Urteilstenor Nr. 1 festgestellt, dass das Tarifeinheitsgesetz teilweise nicht mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist und im Urteilstenor Nr. 3 das Übergangsrecht bis zum Inkrafttreten der geforderten gesetzlichen Neuregelung festgelegt (zum Übergangsrecht näher unten 5).
Tenor Nr. 1.
§ 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3.7.2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 1130) ist insoweit mit Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden.
Die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes sind nach Auffassung des BVerfG insoweit unverhältnismäßig, als das Gesetz "keine Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft vorsehen" (Rn. 200).
Arbeitnehmer, die in kleinen Berufsgruppengewerkschaften organisiert sind, tragen aufgrund des Gesetzes das Risiko, dass der von ihrer Gewerkschaft verhandelte Tarifvertrag nicht zur Anwendung kommt. Diese Belastung werde im Grundsatz dadurch gemildert, dass die Gewerkschaft den Mehrheitstarifvertrag nachzeichnen kann, aus dem sich dann auch für die in der Minderheitsgewerkschaft organisierten Beschäftigten tarifliche Arbeitsbedingungen ergeben.
Es fehlen jedoch strukturelle Vorkehrungen, die sichern, dass die Interessen dieser Arbeitnehmer hinreichend Berücksichtigung finden. Ohne solche Sicherungen sei nicht auszuschließen, dass der im Betrieb anwendbare Mehrheitstarifvertrag auch im Fall der Nachzeichnung die Arbeitsbedingungen und Interessen der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, mangels wirksamer Vertretung dieser Gruppe in der Mehrheitsgewerkschaft in unzumutbarer Weise übergeht.
Insoweit muss also der Gesetzgeber durch eine Neufassung des Tarifeinheitsgesetzes "nachbessern". Das BVerfG hat dem Gesetzgeber aufgegeben, die gesetzliche Neuregelung bis zum 31.12.2018 zu schaffen.
In dieser Übergangsphase bis zur Neuregelung des Tarifeinheitsgesetzes gilt das Tarifeinheitsgesetz mit folgender, im Urteilstenor Nr. 3 verankerten Maßgabe:
Tenor Nr. 3.
Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
Auch an anderer Stelle (Rn. 188) deutet das BVerfG Handlungsbedarf für den Gesetzgeber an.
Konkret bezieht das BVerfG seine Ausführungen auf den durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Bestandsschutz für tarifvertraglich garantierte langfristig angelegte Leistungen. Nicht ausgeschlossen werden könne, dass durch die Verdrängung des Tarifvertrags der Minderheitsgewerkschaft langfristig angelegte, die Lebensplanung der Beschäftigten berührende Ansprüche untergehen, ohne dass im nachzeichnungsfähigen Mehrheitstarifvertrag vergleichbare Leistungen vorgesehen sind. Der ersatzlose Verlust oder die substanzielle Entwertung insoweit bereits erworbener Ansprüche oder Anwartschaften infolge einer Verdrängung des zugrunde liegenden Tarifvertrags würde unverhältnismäßig jedenfalls in die grundrechtlich geschützte Teilhabe am Tarifergebnis eingreifen.
So läge eine unzumutbare Härte z. B. vor, wenn eine tarifvertraglich vereinbarte, langfristig angelegte Leistung zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit, soweit sie bereits erworben ist, durch einen verdrängenden Tarifvertrag verloren ginge oder substanziell entwertet würde, der dafür überhaupt keine Regelung trifft.
Desgleichen wäre es etwa unzumutbar, wenn aufgrund einer Kollision nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG Beschäftigte dazu gezwungen wären, eine unmittelbar bevorstehende oder bereits begonnene berufliche Bildungsmaßnahme nicht wahrnehmen zu können oder abbrechen zu müssen.
Das BVerfG stellt fest, dass der Gesetzgeber in § 4a TVG keine Vorkehrungen getroffen hat, die sicherstellen, dass solche unzumutbaren Härten vermieden werden. Die Gerichte müssen von Verfassungs wegen bei der Anwendung des für die weitere Gewährung solcher längerfristig angelegter Leistungen maßgeblichen Rechts sicherstellen, dass es zu diesen Härten nicht kommt. Nötigenfalls sei der Gesetzgeber gehalten, die Zumutbarkeit der Verdrängung solcher Leistungen zu sichern.
Hinsichtlich der kollidierenden Tarifverträge des öffentlichen Dienstes wird dem letztgenannten Punkt keine praktische Bedeutung zukommen. Sämtliche Tarifverträge enthalten Regelungen beispielsweise zur zusätzlichen betrieblichen Altersversorgung sowie zum Ausschluss der ordentlichen Kündigung (sog. "Unkündbarkeit") bei langjähriger Beschäftigung.