In ihrer Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden teilte die Präsidentin des BAG mit, dass Rechtsstreitigkeiten über Tarifpluralität bei beiderseitiger Tarifgebundenheit nach § 3 TVG in den letzten 25 Jahren selten gewesen seien. Die Entscheidungen hätten keine im Arbeitsleben typischen Sachverhalte betroffen.
Abzuwarten bleibt, ob sich die Zahl derartiger Rechtsstreitigkeiten aufgrund des Tarifeinheitsgesetzes und dessen grundsätzlicher Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zukünftig erhöhen wird.
Das BVerfG nimmt in seiner Entscheidung (Rn. 169) auch ausdrücklich Bezug auf die Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes auf die Sozialpartner. Das BVerfG betont das erhebliche Gewicht der Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes im Vorfeld einer Tarifkollision. Das Tarifeinheitsgesetz beeinträchtige bereits vor einer Tarifkollision die tarifpolitische Freiheit der Gewerkschaften, die in einem Betrieb strukturell oder sogar offenkundig lediglich eine Minderheit der Beschäftigten organisieren. Für die Minderheitsgewerkschaft bestehe die Gefahr, dass sie vom sozialen Gegenspieler – dem Arbeitgeber bzw. der Vereinigung von Arbeitgebern – von vornherein nicht mehr als Tarifpartner ernstgenommen werden, weil klar oder jedenfalls wahrscheinlich ist, dass die von ihnen abgeschlossenen Tarifverträge nicht zur Anwendung kommen. Diese Gewerkschaften verlieren an Attraktivität und Mobilisierungskraft für den Arbeitskampf. Mit dem potenziellen Bedeutungsverlust und der nachlassenden Gestaltungskraft erhöhe sich der Druck, die tarifpolitische Ausrichtung zu ändern.
Die weitere Entwicklung aufseiten der Gewerkschaften bleibt abzuwarten. Denkbar wäre z. B., dass sich die berufsspezifischen Gewerkschaften öffnen für die Interessenvertretung weiterer Beschäftigtengruppen, um so die Anzahl der Mitglieder im Betrieb zu erhöhen.
Fazit der Entscheidung des BVerfG zum Tarifeinheitsgesetz
Zusammenfassend bleibt festzustellen:
- Da das Tarifeinheitsgesetz Arbeitskampfmaßnahmen nicht regelt, hat das Tarifeinheitsgesetz – entgegen der Einschätzung des Gesetzgebers in der Gesetzesbegründung – keine Auswirkung auf die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen der Minderheitsgewerkschaft. Das BVerfG hat ausdrücklich klargestellt, dass dahingehende Haftungsrisiken nicht den Gewerkschaften aufgebürdet werden dürfen.
- Auch nach Veröffentlichung des BVerfG-Urteils ist mit einer Befriedung der Thematik kaum zu rechnen. Verwiesen sei auf die vom BVerfG geforderte, längstens bis zum 31.12.2018 umzusetzende Nachbesserung im Tarifeinheitsgesetz sowie die zahlreichen offenen Fragen, die letztlich von den Arbeitsgerichten zu entscheiden sind, z. B. betreffend die Voraussetzungen für eine Verdrängung von Tarifverträgen in der Übergangszeit sowie die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Bekanntgabe von Tarifverhandlungen und die Anhörung der Minderheitsgewerkschaft.
- Schlussendlich kann die Frage, welcher Tarifvertrag nach dem Tarifeinheitsgesetz zur Anwendung kommt, auch im arbeitsrechtlichen Individualrechtsstreit – also im Prozess zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber – relevant sein. Arbeitnehmer können sich nach Auffassung des BVerfG auf die Wirkung des Tarifeinheitsgesetzes berufen, die ihnen bekannten, für die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags relevanten Umstände substantiieren und entsprechende Beweisanträge stellen. Die Darlegungs- und Beweislasten für eine solche gerichtliche Auseinandersetzung haben die Arbeitsgerichte "näher auszutarieren" (BVerfG, Rn. 214).