Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 195
Maßgebliche Beurteilungsgrundlage für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung sind nach ständiger Rechtsprechung die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung.
1.3.4.1 Beurteilungsperspektive
Rz. 196
Diese Aussage enthält zunächst eine Festlegung im Hinblick auf die perspektivisch-personelle Dimension der Beurteilung des Kündigungssachverhalts: Nach zutreffender Auffassung des BAG kommt es allein auf die zum Kündigungszeitpunkt objektiv vorliegenden Verhältnisse an. Bei deren Betrachtung ist die Perspektive eines ideal-objektiven Beobachters einzunehmen. Unerheblich ist dagegen die subjektive Sicht des Arbeitgebers. Im Kündigungszeitpunkt beim Arbeitgeber nicht vorhandenes Wissen schützt diesen nicht vor der Unwirksamkeit einer Kündigung.
Beispiel
Durfte ein Arbeitgeber aufgrund eines vorliegenden ärztlichen Attests zum Zeitpunkt der Kündigung in vertretbarer Weise von der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers ausgehen, ist die aus diesem Grunde ausgesprochene Kündigung gleichwohl unwirksam, wenn sich später herausstellt, dass schon zu diesem Zeitpunkt nur eine harmlose Kurzerkrankung vorlag.
Das bedeutet allerdings nicht, dass subjektive Entscheidungen des Arbeitgebers (insbesondere beim Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen) grundsätzlich keine Rolle spielen dürfen. Ob diesen kündigungsbegründende Wirkung zukommt (beispielsweise weil aus ihnen der Wegfall des Beschäftigungsbedarfs für einen bestimmten Arbeitnehmer folgt), ist jedoch wiederum aus ideal-objektiver Perspektive zu beurteilen.
Entsprechendes gilt für die Kündigungsrelevanz eines subjektiven "Vertrauensverlusts" des Arbeitgebers in den Arbeitnehmer. Ein solcher kann nach richtiger Auffassung des BAG eine Kündigung nur dann rechtfertigen, wenn er zum einen auf objektiven Tatsachen beruht und zum anderen auch objektiv nachvollziehbar ist.
Rz. 197
Der Grundsatz, dass der Kündigungssachverhalt aus ideal-objektiver Perspektive zu beurteilen ist, gilt auch für die im Rahmen aller Kündigungsgründe anzustellenden Zukunftsprognosen (dazu näher Rz. 276 ff.). Insbesondere ist ein wie auch immer gearteter "Prognosespielraum" des Arbeitgebers nicht anzuerkennen.
1.3.4.2 Beurteilungszeitpunkt
Rz. 198
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob eine Kündigung sozial gerechtfertigt ist, ist der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung (siehe dazu näher Rz. 126 ff.).
Rz. 199
Unerheblich können Tatsachen sein, die zu weit in der Vergangenheit liegen und sich deshalb nicht mehr negativ auf das Arbeitsverhältnis auswirken.
Beispiele
Weiß der Arbeitgeber schon über 2 Wochen von dem Fehlverhalten des Arbeitnehmers, kann er sich nicht mehr darauf berufen, dass die weitere Zusammenarbeit für ihn unerträglich wäre und er deshalb fristlos kündigen müsse, vgl. § 626 Abs. 2 BGB.
Hat der Arbeitgeber ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers abgemahnt, kann er deswegen ohne erneuten Verstoß keine Kündigung aussprechen.
Umstände aus der Zeit vor Vertragsschluss, die dem Arbeitgeber erst später bekannt werden, können dagegen eine Kündigung rechtfertigen, sofern sie das Arbeitsverhältnis aktuell belasten. Kündigungs- und Anfechtungsrecht stehen nebeneinander.
Rz. 200
Unerheblich sind auf jeden Fall Ereignisse, die sich nach Zugang der Kündigung ereignen. D. h.:
Rz. 201
Fällt der Kündigungsgrund nach Ausspruch der Kündigung weg, bleibt die Kündigung wirksam. Der Arbeitnehmer hat aber ggf. einen Anspruch auf Wiedereinstellung (siehe dazu sogleich Binnenverweis).
Rz. 202
War die Kündigung bei Zugang rechtsunwirksam, kommt eine Heilung der Mängel grds. nicht in Betracht. Das Arbeitsverhältnis kann nur durch eine neue Kündigung beendet werden.
Beispiele
War die Kündigung nicht sozial gerechtfertigt i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, aber ergibt sich später ein Kündigungsgrund, muss der Arbeitgeber erneut kündigen.
War die Kündigung navh § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam, weil der Arbeitgeber die Kündigung ohne ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats ausgesprochen hatte, führt das Nachholen der Anhörung nicht zur Heilung.
1.3.4.3 Nachschieben von Kündigungsgründen
Rz. 203
Im Kündigungsschutzprozess kann sich der Arbeitgeber grds. auf alle Kündigungsgründe stütze...