Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 772
Nach der Rechtsprechung und der überwiegend in der Literatur vertretenen Ansicht ist der Arbeitgeber regelmäßig zur Wiedereinstellung entlassener Arbeitnehmer verpflichtet, wenn sich noch während des Laufs der Kündigungsfrist unvorhergesehen eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ergibt, der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die wirksame Kündigung noch keine Dispositionen getroffen hat und der Wiedereinstellung auch keine berechtigten Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen. Des Weiteren muss auf den Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung das Kündigungsschutzgesetz anwendbar gewesen sein.
Rz. 773
Dogmatisch lässt sich ein solcher Anspruch unterschiedlich begründen. So wird auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, das Verbot des venire contra factum proprium, den Grundsatz des Vertrauensschutzes oder auch eine systemimmanente Rechtsfortbildung abgestellt.
Das BAG hat zuletzt überzeugend den Kontrahierungszwang des Arbeitgebers aus einer vertraglichen Nebenpflicht i. S. v. §§ 241 Abs. 2, 242 BGB i. V. m. dem noch fortbestehenden Arbeitsverhältnis abgeleitet. Zu den letztlich auf § 242 BGB beruhenden arbeitsvertraglichen Nebenpflichten gehört auch die Pflicht, auf die berechtigten Interessen des Vertragspartners Rücksicht zu nehmen. Das berechtigte Interesse des Arbeitnehmers an dem Erhalt seines Arbeitsplatzes ist durch Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur bis zum Ausspruch einer Kündigung – Zugang der Kündigungserklärung –, sondern auch noch danach bis zur endgültigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Ablauf der Kündigungsfrist geschützt. Zwar wird der dem Staat obliegenden grundrechtlichen Schutzpflicht grds. durch das Kündigungsschutzgesetz hinreichend Rechnung getragen. Durch die Vorverlagerung des maßgeblichen Prüfungszeitpunkts vom Ende des Arbeitsverhältnisses auf den häufig viele Monate früher liegenden und nicht nur von der Dauer der Kündigungsfrist, sondern auch vom Willensentschluss des Arbeitgebers abhängigen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung, entsteht jedoch ein Bedürfnis nach einem Korrektiv in den Fällen, in denen sich die maßgeblichen Umstände entgegen der ursprünglichen Prognose nachträglich ändern. Hieraus ergibt sich allerdings auch, dass ein Wiedereinstellungsanspruch grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn sich die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit noch im bestehenden Arbeitsverhältnis, mithin bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ergibt. Denn mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses enden die vertraglichen Interessenwahrungspflichten und die schwächeren nachvertraglichen Pflichten können eine Wiedereinstellung nicht begründen.
Etwas anderes könnte letztlich im Einzelfall nur gelten, wenn der Arbeitgeber seine Unternehmerentscheidung nach Ablauf der Kündigungsfrist ändert oder vollständig aufhebt und hierdurch Wiedereinstellungmöglichkeiten geschaffen werden. Der 2. Senat des BAG hat diese Frage in einer älteren Entscheidung allerdings ausdrücklich offen gelassen. Anknüpfend daran hält der 8. Senat ausnahmsweise das Entstehen des Wiedereinstellungsanspruchs nach Ablauf der Kündigungsfrist für möglich, wenn der Betrieb oder Betriebsteil, dem der Arbeitnehmer zugeordnet war, gemäß § 613a BGB auf einen Betriebserwerber übergeht. Ein solcher Wiedereinstellungsanspruch trägt aber wohl weniger der vertraglichen Fürsorgepflicht, als vielmehr dem Gedanken des Bestandsschutzes Rechnung, wenn allein vom Willen des Arbeitgebers getragene Entscheidungen eine Umgehung des Kündigungs- und Übergangsschutzes befürchten lassen.
Rz. 774
Ein Wiedereinstellungsanspruch auf der Grundlage einer vertraglichen Nebenpflicht ist auch dann anzunehmen, wenn während des Laufs der Kündigungsfrist ein anderer Arbeitsplatz, auf dem der Arbeitnehmer beschäftigt werden kann, unvorhergesehen frei wird. Denn auch eine solche Beschäftigungsmöglichkeit im Zeitpunkt der Kündigungserklärung hätte der Wirksamkeit der Kündigung entgegengestanden.
Rz. 775
In der Insolvenz besteht allerdings kein Wiedereinstellungsanspruch, da die Insolvenzordnung im Hinblick auf die Begründung von Rechtsverhältnissen keinen Kontrahierungszwang für den Verwalter vorsieht, sondern ihn über § 108 Abs. 1 InsO nur an bestimmte, bereits vom Schuldner begründete Rechtsverhältnisse bindet. Diese muss der Verwalter wirksam kündigen, wenn er die Masse von den damit verbundenen Verbindlichkeiten befreien will. Das gilt im Hinblick auf einen etwaigen Betriebsübergang nicht nur bei wirksamer Kündigung des Insolvenzverwalters in der Insolvenz des Betriebsveräußerers, sondern auch bei wirksamer Kündigung durch den später insolventen Veräußerer sowie bei wirksamer Kündigung des Veräußerers bei späterer Insolvenz des Erwerbers.
Rz. 776
Der Arbeitgeber kann einem Wiedereinstellungsanspruch berechtigte betriebliche Interessen entgegenhalten. So scheidet eine Wiedereinstellung aus, wenn der Arbeitgeber bereits andere Dispositionen getroffen, z. B. den unvorhergesehen frei gewordenen Arbeitsplat...