Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 950
Der Rückgriff auf § 1 Abs. 5 KSchG setzt zunächst eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG voraus. Welcher Fall einer Betriebsänderung vorliegt, spielt dabei keine Rolle; ein und dieselbe Maßnahme des Unternehmers kann durchaus mehrere Tatbestände des § 111 BetrVG erfüllen.
Rz. 951
Insofern ist zu berücksichtigen, dass eine Betriebseinschränkung i. S. d. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG nicht unbedingt eine Verringerung der sachlichen Betriebsmittel erfordert, sondern auch durch einen Personalabbau erfolgen kann. Voraussetzung für die Annahme einer Betriebsänderung ist allerdings, dass der Personalabbau eine größere Zahl von Arbeitnehmern betrifft; Anknüpfungspunkt sind dabei die Zahlen- und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG.
Ein Personalabbau stellt somit eine (interessenausgleichspflichtige) Betriebsänderung dar, wenn
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mindestens 20 und höchstens 60 Arbeitnehmern |
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mindestens 5 Entlassungen |
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mindestens 60 und höchstens 500 Arbeitnehmern oder |
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mindestens 25 Entlassungen |
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mindestens 10 % der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer |
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mindestens 500 Arbeitnehmer |
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mindestens 30 Entlassungen |
vornehmen. |
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Bei größeren Betrieben ist ferner Voraussetzung, dass der Personalabbau mindestens 5 % der Belegschaft betrifft.
Rz. 952
Diese Zahlen stellen jedoch keine "starren" Vorgaben, sondern eine bloße "Richtschnur" dar. Bei einem geringfügigen Unterschreiten der Schwellenwerte kann eine wertende Betrachtung des Einzelfalls gleichwohl zur Annahme einer Betriebsänderung führen.
Rz. 953
Die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG werden hinsichtlich größerer Betriebe zudem durch das zusätzliche Erfordernis ergänzt, dass zumindest 5 % der Mitarbeiter der Gesamtbelegschaft von den Kündigungen betroffen sind.
Rz. 954
Zu beachten ist ferner, dass die 30-Tages-Frist des § 17 Abs. 1 KSchG im Rahmen des § 111 BetrVG keine Anwendung findet. Maßgeblich ist vielmehr die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die voraussichtlich, wenn auch in mehreren "Wellen" und erst nach Ablauf mehrerer Monate, betroffen sein werden, solange diesen Entlassungen eine übergreifende Planung zugrunde liegt.
Rz. 955
Soweit ein reiner Personalabbau nach diesen Kriterien eine wesentliche Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG darstellt, können die Betriebspartner einen Interessenausgleich einschließlich Namensliste vereinbaren, der die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG auslöst.
Rz. 956
Die Betriebsänderung muss – anders als in § 125 InsO – nicht bloß geplant sein, sondern tatsächlich stattfinden; § 1 Abs. 5 KSchG erfasst nur betriebsbedingte Kündigungen, die "aufgrund" einer Betriebsänderung ausgesprochen werden. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass die Namensliste zur Erleichterung der Kündigung von Personen benutzt wird, deren Weiterbeschäftigung aus Gründen, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, nicht mehr gewünscht ist. Eine Namensliste, auf der auch freiwillig ausscheidende Arbeitnehmer benannt werden, um z. B. eine Sperrzeit nach § 159 SGB III auszuschließen, ist daher keine taugliche Basis für die Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse. Wird eine geplante Maßnahme im Zuge der Verhandlungen um einen Interessenausgleich so weit abgeschwächt, dass sie keine Betriebsänderung mehr darstellt, gelangt § 1 Abs. 5 KSchG nicht zur Anwendung.
Rz. 957
Der Interessenausgleich kann auch eine Betriebsänderung in Form eines Personalabbaus regeln, der lediglich durchgeführt wird, falls es zu Widersprüchen gegen den Übergang von Arbeitsverhältnissen nach § 613a Abs. 6 BGB kommt. Allerdings muss die dann anstehende Betriebsänderung bereits in ihren Einzelheiten feststehen; ein "vorsorglicher" Interessenausgleich ist unwirksam.