Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 169
Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob es zu der vom 6. Senat avisierten Änderung der Rechtsprechung kommt. Zu begrüßen ist jedenfalls, dass das BAG in Erinnerung gerufen hat, dass der Gesetzgeber eigentlich schon seit der Junk-Entscheidung des EuGH im Jahr 2005 (Rz. 16) in der Pflicht steht, die §§ 17 ff. KSchG dem Unionsrecht anzupassen, dies aber bislang unterlassen hat. Im Übrigen wirft die vorgeschlagene Änderung der Rechtsprechung Fragen auf. Anerkanntermaßen sind höchstrichterliche Urteile kein Gesetzesrecht und ändern die Rechtslage nicht, sondern stellen sie lediglich aufgrund eines prinzipiell irrtumsanfälligen Erkenntnisprozesses für den konkreten Fall fest. Daher kann sich auch eine höchstrichterliche Rechtsprechung ändern, wenn das Gericht zur Auffassung gelangt, sich geirrt zu haben. Diese Erkenntnis sollte aber aus rechtsstaatlichen Gründen (Art. 20 Abs. 3 GG) und Gründen der Rechtssicherheit nur äußert selten und nur dann geäußert werden, wenn ganz überzeugende Argumente hierfür vorliegen. Der Ansatz des 6. Senats und die Begründung für die beabsichtigte Rechtsprechungsänderung überzeugen allerdings nicht.
Rz. 170
Wenig überzeugend ist insbesondere die Differenzierung in den Rechtsfolgen: keine Folgen für Fehler im Anzeigeverfahren, hingegen Nichtigkeit der Kündigung (oder sonstigen Entlassung) nach § 134 BGB bei Fehlern im Konsultationsverfahren. Dies gilt umso mehr, als der EuGH (auch auf Anfrage des 6. Senats) entschieden hat, dass das in Art. 2 MERL vorgesehene Recht auf Information und Konsultation nur den Arbeitnehmervertretern und nicht dem einzelnen Arbeitnehmer zukomme und das Konsultationsverfahren, namentlich Art. 2 Abs. 3 MERL, den betroffenen Arbeitnehmern einen kollektiven und keinen individuellen Schutz gewähre. Dies würde es eher nahelegen, die das Konsultationsverfahren regelnde Norm des § 17 Abs. 2 KSchG – entgegen dem Ansatz des BAG – gerade nicht als Verbotsnorm i. S. d. § 134 BGB anzusehen mit der Folge, dass Fehler im Konsultationsverfahren nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Jedenfalls wäre diesbezüglich eine – bislang noch nicht erfolgte – Vorlage an den EuGH in Erwägung zu ziehen.
Rz. 171
Wenn man nach dem – aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) folgenden – Gebot der unionrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts eine die Grundsätze von Äquivalenz, Effektivität und Verhältnismäßigkeit beachtende Lösung im nationalen Recht sucht, käme bei der angedachten kompletten Neujustierung des Sanktionensystems im Hinblick auf den kollektiven, betriebsverfassungsrechtlichen Charakter des Konsultationsverfahrens auch in Betracht, lediglich der Arbeitnehmervertretung eine wirksame Sanktion an die Hand zu geben. Art. 6 MERL fordert nämlich nur, dass "den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern" Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen aus der MERL zur Verfügung gestellt werden. Insoweit ist neben dem Leistungsanspruch auf Unterrichtung und Beratung auch an einen komplementären Unterlassungsanspruch des Betriebsrats (z. B. über eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 23 Abs. 3 BetrVG) zu denken. Als ergänzende individualrechtliche Sanktion könnte man auch eine Analogie zu § 113 BetrVG erwägen.
Rz. 172
Nicht überzeugend ist ferner, dass Fehler im Anzeigeverfahren nach der neuen Systematik des 6. Senats – abgesehen von den geforderten gesetzgeberischen Sanktionen im Arbeitsförderungsrecht de lege ferenda – erst einmal nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung oder sonstigen Entlassung führen sollen, obwohl die Anzeigepflicht mittelbar "auch individualschützende Wirkung" hat (vgl. Rz. 161). Damit fällt der 6. Senat sogar hinter seine alte Rechtsprechung aus 2005 zurück: Jedenfalls, wenn entgegen § 17 Abs. 1 KSchG überhaupt keine Massenentlassungsanzeige gestellt wurde, folgte danach aus § 18 Abs. 1 KSchG, dass die Entlassung nicht wirksam werden kann; eine dauerhafte Entlassungssperre hat also letztlich dieselben Rechtswirkungen wie § 134 BGB und führt zur Unwirksamkeit der Kündigung. § 18 Abs. 1 KSchG mit der Rechtsfolge einer Entlassungssperre ließe sich unionsrechtskonform ggf. auch erweiternd auf andere Fehler im Anzeigeverfahren anwenden, wobei man die Möglichkeit der Verkürzung der Sperrfrist durch "Zustimmung" der Arbeitsverwaltung auf den Fall der ordnungsgemäßen/fehlerfreien Anzeige beschränken könnte. Insoweit überzeugt der Ansatz der 2. Senats mehr als derjenige des 6. Senats. Allerdings bleibt abzuwarten, ob es der EuGH für mit Art. 6 MERL vereinbar hält, dass der von einer Entscheidung der Arbeitsverwaltung betroffene Arbeitnehmer diese Entscheidung der Arbeitsverwaltung nicht selbst gerichtlich überprüfen kann.