LAG Köln, Urteil vom 30.3.2022, 11 Sa 786/21
Eine empfangsbedürftige Willenserklärung unter Abwesenden gilt als zugegangen, wenn sie derart in den Herrschaftsbereich des Empfängers oder eines empfangsberechtigten Dritten gelangt ist, dass für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Eine per Telefax übermittelte Erklärung ist grundsätzlich mit Abschluss des Druckvorgangs am Empfangsgerät zugegangen. Bezüglich des Zeitpunkts der Kenntnisnahme ist darauf abzustellen, wann sich der Empfänger nach den Gepflogenheiten der Verkehrsanschauung Kenntnis vom Inhalt der Erklärung verschaffen konnte. Dabei ist die Möglichkeit einer Kenntnisnahme im Rahmen von Gleitzeit bei deiner Dienststelle nicht auf die Kernarbeitszeit beschränkt.
Sachverhalt
Der Kläger des vorliegenden Falles ist mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Seit dem 15.11.2019 ist er bei der Beklagten als Wachtmeister beschäftigt. Aufgrund einer beabsichtigten Kündigung in der Probezeit hörte die Beklagte mit Schreiben vom 23.4.2020 – unter ordnungsgemäßer Beteiligung der übrigen Gremien – die Gesamtschwerbehindertenvertretung an. Die an die Gesamtschwerbehindertenvertretung gerichtete Anhörung ging am Donnerstag, dem 30.4.2020, gegen 16.05 Uhr per Telefax (Papierfax) im Büro des Gremiums ein. Der nächste Werktag war der arbeitsfreie 1.5.2020.
Es besteht bei der Beklagten eine Dienstvereinbarung zur gleitenden Arbeitszeit. In dieser ist geregelt, dass die Kernarbeitszeit, in welcher die Beschäftigten zur Anwesenheit verpflichtet sind, für die Wochentage Montag bis Donnerstag zwischen 9.00 Uhr und 12.00 Uhr und von 14.00 Uhr bis 15.00 Uhr liegt und freitags zwischen 9.00 Uhr und 12.00 Uhr. Des Weiteren sind in der Dienstvereinbarung innerhalb des Gleitzeitrahmens Dienststunden für Beschäftigte donnerstags bis 16.25 Uhr und für Beamte bis 16.45 Uhr vorgesehen.
Mit Schreiben vom 8.5.2020 kündigte nun die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.5.2020. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage. Er war der Ansicht, dass sich der gewöhnliche Zugang der schriftlichen Anhörung bei der Schwerbehindertenvertretung nach der Kernarbeitszeit richte und das Anhörungsschreiben daher erst am 4.5.2020 zugegangen und somit die Wochenfrist zur Stellungnahme nicht gewahrt sei; denn außerhalb der Kernarbeitszeit bestehe keine Anwesenheitspflicht. Es sei zudem zweifelhaft, ob auf den Eingang des Telefax abzustellen sei, da die Schwerbehindertenvertretung über einen eigenen elektronischen Zugang verfüge.
Die Entscheidung
Die Klage hatte keinen Erfolg.
Das Gericht führte zunächst aus, dass die Kündigung eines schwerbehinderten oder diesem gleichgestellten Menschen, die der Arbeitgeber ohne ordnungsgemäße Beteiligung der zuständigen Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ausspreche, gem. § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX unwirksam sei. Für die Stellungnahmefrist enthalte das Gesetz jedoch eine planwidrige Regelungslücke; diese sei allerdings durch eine analoge Anwendung des § 102 Abs. 2 des BetrVG i. V. m. §§ 187ff. BGB zu schließen. Für die Berechnung der Wochenfrist zur Stellungnahme sei auf den Zugang der Anhörung bei der zuständigen Schwerbehindertenvertretung abzustellen entsprechend § 130 Abs. 1 BGB. Unter Abwesenden gehe eine schriftliche Willenserklärung dann zu, wenn sie in verkehrsüblicher Weise in den Machtbereich des Empfängers bzw. eines empfangsberechtigten Dritten gelangt sei und für den Empfänger unter gewöhnlichen Umständen die Möglichkeit bestehe, vom Inhalt des Schreibens Kenntnis zu erlangen. Hierbei sei auf die vom Empfänger getroffenen Empfangsvorkehrungen abzustellen. Für die Übermittlung per Telefax urteilte das Gericht, dass die Erklärung grundsätzlich mit Abschluss des Druckvorgangs am Empfangsgerät in den Machtbereich des Empfängers gelange. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Kenntnisnahme sei darauf abzustellen, wann sich der Empfänger nach den Gepflogenheiten der Verkehrsanschauung Kenntnis vom Inhalt der Erklärung habe verschaffen können. Im öffentlichen Dienst seien hierbei die üblichen Dienstzeiten der Dienststelle zu beachten.
Im vorliegenden Fall war das Anhörungsschreiben am 30.4.2020 gegen 16.05 Uhr in üblich praktizierter Weise per Telefax im Geschäftszimmer der Schwerbehindertenvertretung ausgedruckt worden und dadurch in den Machtbereich der Schwerbehindertenvertretung gelangt. Für die Frage des Zeitpunkts des Zugangs entschied das LAG jedoch, dass das Telefax entgegen der Ansicht des Klägers unter Berücksichtigung von Feiertag und Wochenende nicht erst am 4.5.2020, sondern ebenfalls am 30.4. zugegangen sei; denn die Anwesenheitszeiten nach der Dienstvereinbarung über die gleitende Arbeitszeit träfen keine Unterscheidung danach, ob Beschäftigte der Schwerbehindertenvertretung angehörten oder nicht. Für die Mitglieder dieses Gremiums gelte daher dem Grunde nach eine Dienstpflicht, die der Arbeitspflicht der übrigen Beschäft...