Entscheidungsstichwort (Thema)
firmeninterner Verbandstarifvertrag. Arbeitskampfmaßnahmen. Standortverlagerung. Interessenausgleichsverhandlung. Tarifforderungen. lange Kündigungsfristen. Qualifizierungsmaßnahmen. Unternehmensautonomie. Tarifautonomie
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tarifautonomie lässt es grundsätzlich zu, zur Abmilderung der sozialen Folgen einer Betriebsänderung den Abschluss firmeninterner Tarifverträge mittels Arbeitskampf durchzusezten. Eine nach §§ 111 ff. BetrVG ausschließliche „Kompetenzzuweisung” zur Regelung des Ausgleichs wirtschaftlicher Nachteile auf die Betriebsparteien ist weder dem Betriebsverfassungsgesetz zu entnehmen, noch mit der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie vereinbar.
2. Für die Beurteilung, ob die von der Gewerkschaft erhobenen Tarifforderungen tariffähig und damit einem Arbeitskampf zugänglich sind, sind allein die mit der Aufforderung zum Eintritt in die Tarifverhandlungen gegenüber dem Tarifpartner gestellten Tarifforderungen und der Inhalt des Streikbeschlusses maßgeblich, nicht hingegen der Inhalt sonstiger Publikationen wie Flugblätter und Presseerklärungen der Gewerkschaft, betriebsinterne Zeitungen sowie Streikaufrufe der Vertrauensleute.
3. Durch eine aus Anlass einer beabsichtigten Standortverlagerung erhobene Forderung nach exorbitant langen Kündigungsfristen kann die grundrechtlich gewährleistete Unternehmensautonomie verletzt werden. Mithin kann die Tariffähigkeit einer Forderung und damit die Zulässigkeit eines Streiks letztlich auch vom Forderungsumfang abhängig sein. Sofern Tarifforderungen grundsätzlich tariffähig sind (hier: Kündigungsfristen), sind an die Prüfung, ob die Forderung allein aufgrund des geforderten Umfangs den Kernbereich der Unternehmensautonomie verletzen, strenge Anforderungen zu stellen, anderenfalls wäre eine unzulässige Tarifzensur die Folge.
4. Ein Arbeitskampf, durch den der Tarifpartner erstmals zur Aufnahme von Tarifverhandlungen bewegt werden soll, ist nur dann aufgrund der geltend gemachten Tarifforderungen rechtswidrig, wenn die Tarifforderungen als solche – nicht nur aufgrund des gestellten Umfangs – auf ein tariflich nicht regelbares Ziel gerichtet sind (z.B. Ausschluss der Standortverlagerung, Ausschluss jeglicher betriebsbedingter Kündigungen). Es ist üblich und aufgrund der Koalitionsparität zulässig, dass Tarifvertragsparteien zur Aufnahme bzw. zu Beginn von Tarifverhandlungen jeweils die an sich tariffähigen Forderungen in maximaler Höhe stellen; die in diesem Stadium erhobenen Tarifforderungen sind keine feststehenden Bedingungen, sondern werden zur Verhandlung gestellt.
5. Grundsätzlich ist der Arbeitgeber bzw. der Arbeitgeberverband als in Anspruch genommene Tarifvertragspartei dafür darlegungs- und beweispflichtig, dass die Umsetzung der Tarifforderungen den Kernbereich der Unternehmensautonomie verletzt, d.h. in die Entscheidung des Arbeitgebers über das „Ob” (nicht nur über das „Wie”) einer Betriebsänderung rechtwidrig eingreift.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1; BetrVG §§ 111-112
Verfahrensgang
ArbG Kiel (Urteil vom 14.03.2003; Aktenzeichen 5 Ga 10b/03) |
Tenor
1. Die Berufung der Verfügungsklägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichtes Kiel vom 14.03.2003, Az. 5 Ga 10 b/03, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Verfügungsklägerin.
Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Revision nicht gegeben; im Übrigen wird auf § 72 a ArbGG verwiesen.
Tatbestand
Die Verfügungsklägerin, Fa. H… … AG, begehrt im einstweiligen Verfügungsverfahren, der Verfügungsbeklagten, der IG Metall, zu untersagen, in ihrem K… Betrieb Arbeitskampfmaßnahmen zum Zwecke der Durchsetzung eines firmeninternen Verbandstarifvertrages durchzusetzen.
Die Verfügungsklägerin beabsichtigt, Teile der Produktion in K… in den Hauptbetrieb nach W… und nach R… / USA zu verlagern. Durch die Verlagerung des Teilbetriebs sind von den insgesamt rd. 1000 beschäftigten Arbeitnehmern zumindest 562 Arbeitnehmer von Kündigung bedroht. Die Verfügungsklägerin verhandelt derzeit mit dem Betriebsrat vor der Einigungsstelle über den Abschluss eines Interessenausgleichs. Parallel hierzu forderte die Verfügungsbeklagte den Arbeitgeberverband … mit Schreiben vom 18.12.2002 auf, für deren Mitgliedsfirma, d.h. der Verfügungsklägerin, aufgrund der beabsichtigten Standortverlagerung im Januar 2003 in Tarifverhandlungen einzutreten. Soweit von rechtlichem Belang, heißt es hierin auszugsweise (Bl. 31. F. d.GA.):
„Wir denken, dass es unsere gemeinsame Verantwortung als Tarifvertragsparteien ist, dazu beizutragen, dass der K… Standort gesichert und nachteilige Folgen für die Beschäftigten des Unternehmens und die Region vermieden oder gemindert werden.
Zu diesem Zwecke schlagen wir Ihnen vor, mit uns in Verhandlungen über einen auf den K… Betrieb Ihres Mitgliedsunternehmens bezogenen Verbandstarifvertrag einzutreten. Der Tarifvertrag soll für den Fall gelten, dass es trotz der Bemühungen des Betriebsrates zu Produktionsverlagerungen u...