Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitszeitverkürzung durch Freischichten
Leitsatz (amtlich)
Nach § 3 Nr. 1 Buchst. a Abs. 2 Satz 2 des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Brot- und Backwarenindustrie im Lande Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1989 ist die zum 1. April 1990 festgelegte Arbeitszeitverkürzung so vorzunehmen, daß auf der Grundlage einer regelmäßigen Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden für je vier Monate tatsächlich geleisteter Arbeit ein freier Tag gewährt wird. Dieser vom Tarifvertrag ausdrücklich angeordneten Berechnungsmethode steht nicht entgegen, daß damit die in § 3 Nr. 1 Buchst. a Abs. 2 Satz 1 vorgesehene Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38 Stunden nicht voll verwirklicht wird.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Brot- und Backwarenindustrie; Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Brot- und Backwarenindustrie im Lande Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1989 § 3 Nr. 1 Buchst. a
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 22.04.1992; Aktenzeichen 4 Sa 141/92) |
ArbG Oberhausen (Urteil vom 27.11.1991; Aktenzeichen 3 (1) (3) Ca 936/91) |
Tenor
- Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 22. April 1992 – 4 Sa 141/92 – wird zurückgewiesen.
- Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
- Von Rechts wegen !
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, nach wievielen Schichten der Kläger jeweils Anspruch auf eine Freischicht hat.
Der Kläger ist seit 1984 bei der Beklagten beschäftigt. Die Parteien wenden auf das Arbeitsverhältnis den Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Betrieben der Brot- und Backwarenindustrie im Lande Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1989 (MTV) an.
Für die Arbeitszeit ist in § 3 Nr. 1 Buchst. a MTV folgendes bestimmt:
Ҥ 3
Arbeitszeit
Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 40 Stunden und ab 1. April 1989 38,5 Stunden.
Mit Wirkung vom 1. April 1990 verkürzt sich die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf 38 Stunden. Diese Verkürzung der Arbeitszeit erfolgt in der Weise, daß für je vier Monate tatsächlich geleistete Arbeit ein freier Tag gewährt wird. Für die Entgeltberechnung gelten die Grundsätze wie bei der Urlaubsentgeltberechnung. Die Arbeitnehmer arbeiten in diesem Fall bei einer Bezahlung von 38 Stunden 38,5 Stunden in der Woche.
- …”
Die Beklagte ermittelt die Anzahl der für eine Freischicht erforderlichen Schichten, indem sie auf der Basis einer Fünf-Tage-Woche und von 13 Arbeitswochen im Quartal die Zahl der auf vier Monate entfallenden Arbeitstage nach folgender Formel errechnet:
5 (Tage Pro Woche) × 13 (Wochen) |
3 (Monate) × 4 (Monate) |
Danach ergibt sich für je 86,66 geleistete Schichten eine Freischicht; tatsächlich gewährt die Beklagte jedoch schon nach 84 Schichten eine Freischicht.
Der Kläger hält diese Berechnungsmethode für unzutreffend. Er meint, die Voraussetzungen für die Gewährung von Freischichten müßten ausgehend von der tariflichen Regelarbeitszeit von 38 Wochenstunden dadurch ermittelt werden, daß die bei einer tatsächlichen Arbeitszeit von 38,5 Wochenstunden täglich zuviel geleisteten 0,1 Arbeitsstunden jeweils bis zur Arbeitszeit eines vollen Tages addiert würden. Diese Tagesarbeitszeit betrage bei 38 Wochenstunden und einer 5-Tage-Woche 7,6 Stunden, folglich seien 76 Schichten für eine Freischicht erforderlich.
Das von der Beklagten angerufene tarifliche Schiedsgericht hat am 11. April 1991 die Berechnungsmethode der Beklagten für richtig angesehen.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß ihm nach Ableistung von 76 Arbeitsschichten ein freier Arbeitstag zusteht, und zwar ab dem 1. April 1990 entsprechend dem Manteltarifvertrag der Brot- und Backwarenindustrie im Lande Nordrhein-Westfalen vom 22. März 1989.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Auf ein Auskunftsersuchen des Arbeitsgerichts hin hat die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten, Landesbezirk Nordrhein-Westfalen, mitgeteilt, nach dem Tarifvertrag solle nach 76 Arbeitsschichten eine Freischicht gewährt werden, denn es sei die Einführung der 38-Stunden-Woche gewollt gewesen. Eine Ausdehnung der wöchentlichen Arbeitszeit über 38 Stunden hinaus solle nur bis zu dem für die Gewährung eines freien Tages erforderlichen Maß erfolgen. Demgegenüber hat der Verband der Deutschen Brot- und Backwarenindustrie e.V. erklärt, die von der Beklagten angewandte Berechungsweise sei richtig. Sie sei während der Tarifvertragsverhandlungen erläutert und von der Gewerkschaftsseite auch akzeptiert worden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
I. Die Klage ist zwar zulässig. Das nach § 46 Abs. 2 ArbGG, § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse des Klägers an der Feststellung, nach wievielen Arbeitsschichten er jeweils Anspruch auf eine Freischicht hat, liegt vor. Eine Leistungsklage auf Gewährung der dem Kläger bereits zustehenden Freischichten würde den Streit nicht erschöpfen, da der Antrag auch in die Zukunft gerichtet ist (vgl. Senatsurteil vom 23. September 1992 – 4 AZR 566/91 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, zu I der Gründe).
II. Die Klage ist aber nicht begründet. Der Kläger kann nicht nach 76, sondern erst nach 86,66 Arbeitsschichten jeweils eine Freischicht beanspruchen. Dies ergibt sich aus § 3 Nr. 1 Buchst. a) des Manteltarifvertrages, der nach den mit der Revision nicht angefochtenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anzuwenden ist.
1. Das Landesarbeitsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch mit der Begründung verneint, die von der Beklagten angewandte Berechnungsmethode ergebe sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 3 Nr. 1 Buchst. a) Abs. 2 MTV. Dieser stelle nämlich auf tatsächlich geleistete Arbeitsschichten ab und schließe damit die Berücksichtigung von Schichten, die infolge Erkrankung oder Urlaub ausgefallen sind, als Grundlage für die Gewährung einer Freischicht aus. Allein darum gehe es dem Kläger aber bei seiner Berechnungsmethode.
2. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Das Landesarbeitsgericht hat – allerdings mit teilweise unzutreffender Begründung – zu Recht angenommen, daß der Wortlaut des § 3 Nr. 1 Buchst. a) Abs. 2 MTV dem Klagebegehren entgegenstehe.
a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages, über die hier zwischen den Parteien Streit besteht, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Soweit dieser jedoch nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 23. September 1992 – 4 AZR 66/92 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, zu II 2a der Gründe, m.w.N.).
b) Der Wortlaut von § 3 Nr. 1 Buchst. a) Abs. 2 Satz 2 MTV ist eindeutig. Er bestimmt, daß für je vier Monate tatsächlich geleisteter Arbeit ein freier Tag zu gewähren ist. Damit wird der Anspruch auf einen freien Tag allein davon abhängig gemacht, daß ein der Arbeitszeit von vier Monaten entsprechendes Arbeitsvolumen tatsächlich erbracht worden ist. Wenn die Beklagte dieses Arbeitsvolumen anhand der Zahl der im rechnerischen Durchschnitt auf vier Monate entfallenden Arbeitstage berechnet, so ist dies nicht zu beanstanden, denn auf diese Weise werden die sich aus der unterschiedlichen Länge der Monate und der unterschiedlichen Lage der Wochen in den Kalendermonaten ergebenden Differenzen bei der Zahl von Arbeitstagen innerhalb der einzelnen Kalendermonate auf Dauer ausgeglichen. Auch rechnerisch ist die von der Beklagten verwandte Formel korrekt.
c) Der Kläger meint, entgegen dem Wortlaut von § 3 Nr. 1 Buchst. a) Abs. 2 Satz 2 MTV müsse der Anspruch auf einen freien Tag auf der Grundlage der bei einer tatsächlichen Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden zuviel geleisteten Arbeit von 0,1 Stunden pro Tag errechnet werden, denn nach Satz 1 der Vorschrift betrage die regelmäßige Wochenarbeitszeit nur 38 Stunden. Diese 38-Stunden-Woche müsse der allein entscheidende Maßstab für das Volumen der geschuldeten Arbeit sein.
Damit verkennt der Kläger jedoch den Inhalt der tariflichen Regelung. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, daß die von ihm für richtig gehaltene Methode zu einer rechnerisch genaueren Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung auf 38 Wochenstunden durch Gewährung freier Tage führen würde. Bei Gewährung eines freien Tages für je vier Monate mit 38,5 Stunden wöchentlich geleisteter Arbeit, wie sie in Satz 2 vorgeschrieben ist, ergibt sich nämlich eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von rund 38,06 Stunden. Insoweit besteht also ein Widerspruch zwischen Satz 1 und Satz 2 der Bestimmung. Dieser Widerspruch kann jedoch nicht, wie der Kläger meint, dadurch aufgelöst werden, daß der Berechnung entgegen Satz 2 nicht die in vier Monaten geleistete Arbeit, sondern die zwischen der 38- und der 38,5-Stunden-Woche bestehenden Zeitdifferenzen zugrundegelegt werden. Satz 2 geht nämlich als speziellere Norm dem Satz 1 vor. Satz 2 bestimmt, auf welche Weise die in Satz 1 generell vorgesehene Arbeitszeitverkürzung vorzunehmen ist. Diese Bestimmung ist nach ihrem Wortlaut (“diese Verkürzung … erfolgt in der Weise …”) auch abschließend und läßt die verschiedenen anderen möglichen Lösungen nicht zu, selbst wenn diese dem Ziel der 38-Stunden-Woche rechnerisch näher kommen.
Dies gilt nicht nur hinsichtlich der zwischen den Parteien streitigen Berechnungsmethode, sondern auch insoweit, als die Gewährung eines freien Tages nicht jeweils nach Ablauf von vier Monaten, sondern nur nach jeweils vier Monaten tatsächlich geleisteter Arbeit vorgesehen ist. Daher wirken sich nach dem Wortlaut der Vorschrift Zeiten der Nichtleistung von Arbeit nachteilig auf die Arbeitszeitverkürzung durch Gewährung freier Tage aus. Ein solcher nachteiliger Effekt würde dagegen beispielsweise dann nicht eintreten, wenn die Tarifvertragsparteien bestimmt hätten, daß die Arbeitszeitverkürzung von 38,5 auf 38 Wochenstunden durch tatsächliche Verminderung der wöchentlich zu leistenden Arbeitszeit vorgenommen werden soll.
Hätten die Tarifvertragsparteien, wie der Kläger meint, eine rechnerisch exakte Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38 Stunden vornehmen wollen, so hätten sie dies unschwer z.B. durch Addition der im Rahmen der 38,5-Stunden-Woche über 38 Stunden hinausgehenden Arbeitszeiten zu einem freien Tag tun können, wie dies der Kläger auch fordert. Eine solche Regelung enthält der Tarifvertrag aber nicht.
Angesichts dessen verbietet sich eine harmonisierende Auslegung, die zwar entsprechend dem Begehren des Klägers der in Satz 1 festgelegten 38-Stunden-Woche im Ergebnis näherkäme, sich dabei aber über den Wortlaut von Satz 2 hinwegsetzen würde. Die Gestaltung von Tarifverträgen hat Art. 9 Abs. 3 GG allein den Tarifvertragsparteien zugewiesen. Korrigierende Eingriffe in Tarifverträge sind daher den Gerichten für Arbeitssachen verwehrt (Senatsurteil vom 21. Oktober 1992 – 4 AZR 88/92 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, zu III 2b cc der Gründe, m.w.N.).
d) Dieser Auslegung des Tarifvertrags stehen auch die vom Arbeitsgericht eingeholten Auskünfte der Tarifvertragsparteien nicht entgegen. Dies ergibt sich schon daraus, daß es angesichts der sich aus dem Tarifwortlaut ergebenden Auslegung auf die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages und damit auf die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien nicht ankommen kann. Hinzu kommt, daß im vorliegenden Fall die Auskünfte der Tarifvertragsparteien einander widersprechen.
e) Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts spielt die Frage, ob bei der Berechnung nach § 3 Nr. 1 Buchst. a) Abs. 2 MTV wegen Urlaub oder Krankheit ausgefallene Schichten mitzuzählen sind oder nicht, für die Entscheidung über den Feststellungsantrag des Klägers keine Rolle. Der Kläger will nämlich festgestellt wissen, daß ihm “nach Ableistung von 76 Schichten” ein freier Tag zustehe. Er hat keine Entscheidung darüber beantragt, wie ausgefallene Schichten insoweit zu behandeln sind. Auch in der Erläuterung der von ihm für richtig gehaltenen Berechnungsmethode hat er in der Revisionsbegründung von tatsächlich geleisteter Arbeitszeit gesprochen. Er hat nicht vorgetragen, daß die nach seiner Meinung fehlerhafte Berechnung der ihm zustehenden Freischichten durch die Beklagte auf der Nichtberücksichtigung ausgefallener Schichten beruhe. Soweit er in Form einer zusätzlichen Begründung vorgetragen hat, die Formulierung “tatsächlich geleistete Arbeit” bezwecke den Ausschluß von über den Lohnfortzahlungszeitraum hinausgehenden Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, steht dies zu seinem Klageantrag und seinem sonstigen Vorbringen in Widerspruch.
Der MTV enthält im übrigen keinen Anhaltspunkt dafür, daß, wie der Kläger meint, entgegen dem Wortlaut von § 3 Nr. 1 Buchst. a) Abs. 2 Satz 2 MTV auch bestimmte Zeiten der Nichtleistung von Arbeit als Grundlage für die Gewährung eines freienTages in die Berechnung einbezogen werden sollen.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Schaub, Schneider, Dr. Wißmann, Hauk, Müller-Tessmann
Fundstellen
Haufe-Index 845828 |
NZA 1993, 946 |