Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Charta der Grundrechte. Vorlage zur Vorabentscheidung. Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. Erlöschen dieses Anspruchs. Altersteilzeitregelung. Während der im Rahmen dieser Regelung geleisteten Arbeitsphase erworbene, aber noch nicht genommene Jahresurlaubstage. Arbeitsunfähigkeit
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG Art. 7 Abs. 1; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2
Beteiligte
Bayerische Motoren Werke AG |
Tenor
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer durch die Ausübung seiner Arbeit im Rahmen einer Altersteilzeitregelung erworben hat, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt, wenn der Arbeitnehmer vor der Freistellungphase wegen Krankheit daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, und zwar auch dann, wenn es sich nicht um eine lange Abwesenheit handelt.
Tatbestand
In der Rechtssache C-192/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2022, in dem Verfahren
FI
gegen
Bayerische Motoren Werke AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb sowie des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von FI, vertreten durch Rechtsanwältin A. Köhl,
- – der Bayerische Motoren Werke AG, vertreten durch Rechtsanwalt A. Nowak,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FI und der Bayerische Motoren Werke AG wegen der Urlaubsabgeltung, auf die FI Anspruch zu haben behauptet.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„(4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
(5) Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. …“
Rz. 4
Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
Deutsches Recht
Rz. 5
§ 7 („Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs“) des Bundesurlaubsgesetzes vom 8. Januar 1963 (BGBl. 1963 S. 2) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.
…
(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen. …
(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 6
FI war von...