Die zentrale Botschaft des Kapitels lässt sich bereits der Überschrift entnehmen: Im Sinne des von der Norm propagierten ganzheitlichen Ansatzes geht es nicht um die Entwicklung eines zusätzlichen, separat umzusetzenden Managementsystems, sondern um die "organisationsweite Integration" der zuvor dargestellten Grundprinzipien, Praktiken, Kernthemen und Handlungsfelder gesellschaftlicher Verantwortung. Es wird daher ausdrücklich empfohlen, auf bereits vorhandene Instrumente, bewährte Verfahren und Prozesse zurückzugreifen bzw. diese entsprechend anzupassen, um die Identifizierung, die Anerkenntnis und die Wahrnehmung der organisationseigenen Verantwortung als festen Bestandteil der Unternehmensführung und -steuerung zu verankern und neben klassischen Erfolgsanforderungen zur gleichberechtigten Grundlage organisationaler Entscheidungsprozesse werden zu lassen. Konsequent umgesetzt bedeutet das beispielsweise, dass anstelle einer separaten CSR- oder Nachhaltigkeitsstrategie, die in der Praxis der eigentlichen Unternehmensstrategie im Konfliktfall häufig untergeordnet wird, eine umfassend verantwortliche Unternehmensstrategie zu entwickeln ist, die den Beitrag des eigenen Unternehmens zur nachhaltigen Entwicklung von Anfang an mitdenkt.
Das konkrete Vorgehen auf dem Weg dorthin wird in den Abschnitten 7.3. und 7.4 der ISO 26000 beschrieben und lässt sich anhand der nachfolgend dargestellten 5 Schritte veranschaulichen.
Abb. 4: Bestimmung der unternehmenseigenen Verantwortung nach ISO 26000
3.4.1 Schritt 1: Klärung/Bestimmung der Ausgangslage
Im Rahmen des 1. Schrittes in Form einer umfänglichen Status-Quo-Analyse werden zum einen das Kerngeschäft, die Charakteristika (z. B. Standorte, Merkmale der Belegschaft, Wertschöpfungskette, etc.) und die bisherige Ausrichtung (Vision, Mission, Werte, Strategie, gelebte Unternehmenskultur, etc.) der eigenen Organisation vergegenwärtigt und zunächst allgemein unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Verantwortung und der Leitfrage der Auswirkungen der organisationseigenen Aktivitäten auf Umwelt und Gesellschaft beleuchtet. Zum anderen werden die wichtigsten Stakeholder, ihre Erwartungen und Interessen identifiziert und – mithilfe der Kriterien aus dem 5. Kapitel – unter Legitimitätsgesichtspunkten bewertet.
3.4.2 Schritt 2: Prüfung der Handlungsfelder
Im 2. Schritt gilt es, vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Status-Quo-Analyse detaillierter zu untersuchen,
- welche der 37 Handlungsfelder innerhalb der 7 Kernthemen gesellschaftlicher Verantwortung für die eigene Organisation überhaupt relevant sind, d. h. im Kontext des eigenen Kerngeschäfts vorkommen können und/oder bereits Bestandteil einer Selbstverpflichtung des Unternehmens sind (z. B. aufgrund einer Mitgliedschaft im UN Global Compact);
- welche der als relevant eingestuften Handlungsfelder besonders wichtig, also wesentlich bzw. signifikant sind.
Zur Beantwortung der zweiten Frage werden in der Norm eine Reihe von möglichen Bewertungskriterien vorgeschlagen, auf die sich eine Organisation vorab verständigen soll.
Die empfohlenen Kriterien gehen deutlich über das hinaus, was später auf europäischer oder deutscher Ebene als Bestandteil der verpflichtenden Nachhaltigkeitsberichterstattung festgelegt wurde: Erst die 2021 verabschiedete neue Richtlinie der EU, die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), schreibt die Anwendung einer doppelten Wesentlichkeitsperspektive vor, die von der ISO 26000 bereits 2010 empfohlen wurde. Das bedeutet, dass bei der Identifizierung wesentlicher Handlungsfelder nicht nur die Aspekte berücksichtigt werden sollen, die für die Zukunftsfähigkeit und den Fortbestand der eigenen Organisation relevant sind (Outside-In), sondern gleichzeitig die Auswirkungen des organisationalen Handelns auf externe Stakeholder, Umwelt und Gesellschaft (Inside-Out). Für den Erfolg einer Organisation als zentral wird dabei u. a. ihre Glaubwürdigkeit angesehen, dafür wiederum die Frage, ob das, wozu sie sich beispielsweise in ihrem Leitbild bekennt (Einhaltung der Menschenrechte, Umweltschutz, faire Geschäftspraktiken, etc.) auch tatsächlich umgesetzt und gelebt wird. Handlungsfelder aus den entsprechenden Kernthemen sind folglich als mindestens relevant einzustufen. Zu "wesentlichen" Handlungsfeldern können sie dadurch werden, dass die unternehmerischen Entscheidungen und Aktivitäten in ihrem Kontext zusätzlich erhebliche Auswirkungen auf Dritte haben, allem voran auf die, im Rahmen der Stakeholder-Analyse (Schritt 1) als bedeutsam identifizierten Anspruchsgruppen und/oder für Gesellschaft und Umwelt allgemein.