Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund. Strafanzeige gegen Arbeitgeber. Interessenabwägung
Leitsatz (amtlich)
Für die Beurteilung der Frage, ob eine gegen den Arbeitgeber gerichtete Strafanzeige durch den Arbeitnehmer (sog. whistle-blowing) einen wichtigen Kündigungsgrund i. S. des § 626 Abs. 1 BGB bildet, hat eine an den Grundrechten der Beteiligten orientierte umfassende Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung von Interessen der Allgemeinheit stattzufinden.
Normenkette
EMRK Art. 10; GG Art. 2, 5; BGB § 626
Verfahrensgang
ArbG Aachen (Urteil vom 07.12.2010; Aktenzeichen 4 Ca 2873/10) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 07.12.2010 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Aachen – 4 Ca 2873/10 – teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
- Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigungen vom 28.07.2010, 30.07.2010 und 03.08.2010 nicht vor dem 31.03.2011 beendet worden ist.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger zu 5/6 und der Beklagten zu 1/6 auferlegt.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über mehrere außerordentliche Kündigungen, welche die Beklagte unter dem 28.07.2010, dem 30.07.2010 und dem 03.08.2010 jeweils fristlos und mit sozialer Auslauffrist ausgesprochen hat.
Der Kläger ist bei der Beklagten, die u. a. ein Unternehmen für den öffentlichen Nahverkehr betreibt, seit dem 19.08.1988 als Fahrausweisprüfer / Busfahrer bei einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt rund 3.450,00 EUR beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist aufgrund anwendbarer tarifvertraglicher Vorschriften nicht ordentlich kündbar.
Der Kläger wurde bei der letzten Betriebsratswahl zum Ersatzmitglied gewählt. Er nahm in dieser Funktion zuletzt an einer Betriebsratssitzung vom 07.07.2010 teil. Der vor den Kündigungen angehörte Betriebsrat stimmte den beabsichtigten Kündigungen gemäß §§ 102, 103 BetrVG zu.
Am 20.02.2010 richtete der Kläger folgendes Schreiben an die Staatsanwaltschaft Aachen (Bl. 397 f. d. A.):
„Alsdorf, den 20.02.2010
Sehr geehrte Damen und Herren
Es fällt mir schwer, diesen Brief zu schreiben. Ich hatte es meiner Frau, diese hat hier nicht unberechtigte Sorgen um unsere finanzielle Existenz versprochen es nicht zu tun. Es ist auf dem Arbeitsmarkt definitiv keine gleichwertige Stelle mehr zu finden. Dass ich mich trotzdem mit Ihnen in Verbindung setze hat den Grund, dass ich sonst einfach platze. Ich kann das nicht auf sich beruhen lassen. Ich habe Ihnen den Zeitungsausschnitt mitgeschickt, weil er aufzeigt, was in der Automobiltechnik heute möglich ist. Voraussetzung einer Zusammenarbeit mit Ihnen wäre zumindest in einem eventuellen Ermittlungsverfahren, dass meine Immunität gewahrt bleibt. Durch das innerbetriebliche Anprangern bin ich schon jetzt, trotz meiner Stellung im Betriebsrat, Repressalien ausgesetzt. Konstruktive Gespräche darüber sind unmöglich und Beschlüsse des Betriebsrats wurden in dieser Angelegenheit einfach ignoriert.
Der Sachverhalt: Die ASEAG hat über Jahre hinweg Linienbusse der Firma Volvo verkehrs- und betriebsuntauglich mit Wissen und damit vorsätzlich zum Transport von Fahrgästen in den Verkehr geschickt. Dieser Vorwurf betrifft genauso die Firma Volvo. Es zeigten sich innerhalb kürzester Zeit und Laufleistung der Fahrzeuge erhebliche Mängel in der Elektronik ….
Sehr viele Leute bei der ASEAG, nicht nur Fahrer und meine Person, sehen das Ganze so:
- Körperverletzung in mehreren Fällen
- schwere Körperverletzung
- schwerer Eingriff in den Straßenverkehr
- Verkehrsgefährdung
- Transportgefährdung
- Verletzung der Aufsichtspflichten
- Verletzung der Fürsorgepflichten gegenüber Fahrgästen und
Fahrpersonal
- Verursachung hohen Sachschadens
- Das Ganze wurde gemeinschaftlich, vorsätzlich und aus niederen
Beweggründen von den zuständigen, verantwortlichen Abteilungsleiter durchgeführt und durchgesetzt.
- Da auch die Firma VOLVO über die Umstände informiert und zum Teil beteiligt war, bzw. die Folgen hätte ermessen können, ist ihr genauso der Streit anzutragen.
- Der Vorstand der ASEAG ist hier persönlich haftend, da er das Angebot der persönlichen Information über diese und andere Vorgänge strikt abgelehnt hat. Er ist damit nicht mehr nur als Organ haftend ….
Ich gehe davon aus, dass Sie Zeugen und meine Person in den Ermittlungen nicht offen legen. Sollten Namen in diesem Zusammenhang gegenüber der Firma genannt werde, werden sie keine Aussage mehr erhalten. In diesem Fall wären alle Bemühungen voraussichtlich umsonst.
Mit freundlichen Grüßen
D. H.„
Aufgrund dieses Schreibens wurde von der S. A. ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Am 20.05.2010 wurden Geschäftsräume der Beklagten durchsucht. Mit Verfügung vom 04.05.2011 wurde das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Im Anschluss wurde ein sog. Umkehrverfahren gegen den Kläger wegen falscher Verdächtigung und Nötigung eingeleitet. Die S. A. hat Anklage erhoben. Das Verfahren war zum Zeitpunkt de...