Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse bei der betriebsbedingten Kündigung. Gerichtliche Überprüfbarkeit der Sozialauswahl
Leitsatz (redaktionell)
1. Haben die Betriebsparteien wegen einer Betriebsänderung wie z.B. der Reduzierung der Zahl der Papiererzeugungsmaschinen einen Interessenausgleich abgeschlossen und diesem eine Namensliste mit den zu kündigenden Arbeitnehmern beigefügt, besteht nach § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO die gesetzliche Vermutung des Vorliegens dringender betrieblicher Gründe i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 KSchG.
2. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kann die Sozialauswahl der betroffenen Arbeitnehmer nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter sowie die Unterhaltspflichten überprüft werden. Die gerichtliche Überprüfung ist dabei auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt, die vorliegen könnte, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt, der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt oder der auswahlrelevante Personenkreis evident verkannt wurde.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 1 S. 1, § 17 Abs. 3; BetrVG § 102 Abs. 3 S. 1, § 111 S. 3 Nr. 1; InsO § 125 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Elmshorn (Entscheidung vom 31.07.2019; Aktenzeichen 1 Ca 160 e/19) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 31.07.2019 (1 Ca 160 e/19) wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der am ...1968 geborene, verheiratete und einem Kind unterhaltspflichtige Kläger ist seit Juni 1990 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Papierindustrie mit über 200 Mitarbeitern, als Querschneider-Führer beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehörte das Bearbeiten der Aufträge nach Schneideanweisungen, das Einstellen der Maschine, der Formate und die Kontrolle der fertig geschnittenen Bögen auf der Palette. Er bezog zuletzt ein Monatsgehalt von 2.600,00 EUR brutto.
Über das Vermögen der Beklagten wurde am 19.11.2018 das vorläufige Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung angeordnet. Ab Dezember 2018 verhandelten die Betriebsparteien in mehreren Sitzungen über Ablauf und Umfang einer Restrukturierung des Betriebes.
Am 09.01.2019 vereinbarten die Betriebsparteien im Hinblick auf die für den 28.01.2019 geplante Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die bereits laufenden Verhandlungen über einen Interessenausgleich mit Namensliste anlässlich der geplanten Restrukturierung Folgendes:
"Über das Vermögen der F. wurde am 19. November 2018 die vorläufige Eigenverwaltung angeordnet. Am 28. Januar 2019 soll über das Vermögen der F. nach derzeitigen Planungen das Insolvenzverfahren eröffnet und die Eigenverwaltung nach § 270 ff. InsO angeordnet werden. Die Parteien verhandeln derzeit umfassend über eine Restrukturierung im Rahmen eines Sanierungskonzeptes, über den Abschluss eines Interessenausgleichs sowie Sozialplans, die unverzüglich nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen werden sollen. Es ist beabsichtigt, den Personalabbau im Rahmen dieser Restrukturierung vorrangig über den Wechsel der betroffenen Mitarbeiter in eine sog. Transfergesellschaft zu erreichen. Bezüglich der ausscheidenden Mitarbeiter ist der Abschluss eines Interessenausgleichs gemäß §§ 125 Abs. 1, 2 InsO, 1 Abs. 5 KSchG beabsichtigt.
Um Verzögerungen zu vermeiden, sind sich die Parteien einig, dass F. berechtigt ist, den voraussichtlich im vorgenannten Interessenausgleich namentlich benannten Mitarbeitern die mit dem Betriebsrat abgestimmte dreiseitige Vereinbarung zum Wechsel in die Transfergesellschaft mit sofortiger Wirkung auszuhändigen, [..]".
Der Kläger lehnte das ihm von der Beklagten unterbreitete Angebot zum Wechsel in eine Transfergesellschaft ab.
Im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen bildeten die Betriebsparteien für die einzelnen Tätigkeitsbereiche Altersgruppen zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur. Wegen der Einzelheiten wird für den Bereich der Querschneider-Führer auf die Anlage B 5 (Bl. 69 ff. d.A.) verwiesen.
Am 21.01.2019 lud der Vorsitzende des 11-köpfigen Betriebsrats zu einer Sitzung des Gremiums für den 28.01.2019, 13:00 Uhr ein. Der Einladung war die Tagesordnung beigefügt, mit der Ziff. 1 "Abschluss Interessenausgleich und Sozialplan zur Restrukturierung der F. GmbH" und der Ziff. 2 "Anhörung nach § 102 BetrVG zur Kündigung der in der Namensliste aufgeführten Mitarbeiter/innen". Ein Ersatzmitglied wurde nicht geladen. An der Betriebsratssitzung nahmen neun Mitglieder teil. Ausweislich des Protokolls vom 28.01.2019 wurde mehrheitlich der Abschluss des ausverhandelten Interessenausgleichs und Sozialplans beschlossen. Ebenfalls mehrheitlich wurde beschlossen, die Kündigungen zur Kenntnis zu nehmen und das Anhörungsverfahren als abgeschlossen zu betrachten.
Mit Beschluss vom 28.01.2019, 14.30 Uhr, Az: 71 IN 238/18, eröffnete das Amtsgericht P. das Insolvenzverfahren über ...