Rz. 65
Nach dem Grundsatz des § 16 Abs. 1 Nr. 1 ruhen die Leistungsansprüche der Versicherten während eines Auslandsaufenthaltes, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz waren vor dem Inkrafttreten der Abs. 4 bis 6, die durch das GMG (BGBl. I S. 2190) mit Wirkung zum 1.1.2004 eingefügt wurden, innerhalb des SGB V nur in den §§ 17, 18 geregelt. Mit den Abs. 4 bis 6 hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des EuGH zum freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Bereich des deutschen Krankenversicherungsrechts umgesetzt. Der EuGH hatte zuvor in mehreren Entscheidungen (Rechtssachen Kohll, Urteil v. 28.4.1998, C-158/96, und Decker, Urteil v. 28.4.1998, C-120/95; Smits/Peerbooms, Urteil v. 12.7.2001, C-157/99; Müller-Fauré/van Riet, Urteil v. 13.5.2003, C-385/99) entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht zwar die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, gleichwohl die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis aber das Gemeinschaftsrecht zu beachten haben. Die Grundsätze des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit gelten somit auch im Bereich der sozialen Sicherheit, sodass die grenzüberschreitende Nachfrage nach medizinischen Leistungen hierdurch geschützt wird. Versicherte können daher für solche selbst beschafften Leistungen einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber ihrer Krankenkasse geltend machen. Nachdem lange Zeit umstritten war, ob dies auch für solche nationalen Krankenversicherungssysteme gilt, die vom Sachleistungsprinzip geprägt sind, hat der EuGH dies durch die Urteile Smits/Peerbooms (a. a. O.), Vanbraekel (Urteil v. 12.7.2001, C-368/98), und Müller-Fauré/van Riet (a.a.O) ausdrücklich bejaht. Zu beachten ist, dass im Rahmen einer Auslandskrankenbehandlung das EU-Recht grundsätzlich nicht zu einer Ausweitung der Rechte führt, die dem Versicherten nach innerstaatlichem Recht zustehen.
Rz. 66
Aufgrund des gemäß § 30 Abs. 2 SGB I geltenden Vorbehalts des über- und zwischenstaatlichem Rechts können sich Leistungsansprüche bei Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat außerdem auch aus dem EG-Sekundärrecht ergeben, und zwar insbesondere aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 v. 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. EU 2004 Nr. L 166/1 v. 30.4.2004) und der Verordnung (EG) Nr. 987/09 v. 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. EU 2009 Nr. L 284/1 v. 30.10.2009). Diese beiden Verordnungen haben die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 v. 14.6.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EG-VO 1408/71, Wanderarbeitnehmerverordnung) sowie in der dazu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 574/72 v. 21.3.1972 (EG-VO 574/72) ersetzt. Demnach haben Personen, die dem persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung unterliegen, unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen einen Anspruch auf Sachleistungsaushilfe. Der Anspruch ist somit grundsätzlich nicht auf Kostenerstattung (Ausnahme: Art. 34 EG-VO 574/72), sondern auf Gewährung der Sachleistung durch den Träger des Aufenthaltsortes nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften, allerdings für Rechnung des zuständigen Trägers, gerichtet.
Rz. 67
Abs. 4 enthält einen reinen Kostenerstattungsanspruch für den Fall der Beschaffung von ambulanten medizinischen Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat, der weder einen medizinischen Notfall noch eine vorherige Genehmigung der zuständigen Krankenkasse voraussetzt.
Die in Abs. 4 enthaltene Regelung sieht vor, dass Versicherte unabhängig davon, ob sie nach Abs. 2 Kostenerstattung gewählt haben, mit ihrer Nachfrage nach Versicherungsleistungen nicht mehr auf das Inland beschränkt sind, sondern auch Leistungserbringer in anderen Mitgliedstaaten der EU, sowie in anderen Vertragsstaaten des EWR-Abkommens und der Schweiz (die mit der EU mit Wirkung zum 1.6.2002 die Geltung der EG-VO 1408/71, Wanderarbeitnehmerverordnung sowie in der dazu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 574/72 v. 21.3.1972, EG-VO 574/72 vereinbart hat) in Anspruch nehmen und insoweit einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber ihrer Krankenkasse geltend machen können. Von dieser Regelung ausgenommen werden lediglich diejenigen Versicherten, für die die inländischen Krankenkassen für die notwendige medizinische Versorgung in einem anderen Mitgliedstaat einen Pauschbetrag bezahlt haben oder für die ein gegenseitiger Erstattungsverzicht vereinbart wurde. Diese Regelung betrifft die sog. Residenten, die in einem anderen als dem zuständigen Staat wohnen und dort Anspruch auf Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers haben, wobei der zuständige Träger dem Träger des Wohnstaats die dafür aufgewendeten Kosten nicht in tatsächlicher Höhe, sondern auf der Grundlage eines Pauschalbetrages erstattet (Art. 94, 95 EG-...