Demografie-Management hat von jeher ein Problem: Sobald es ums Alter geht, widmet man sich lieber anderen Aufgaben. Diversity-Management klingt da schon besser. "Die Projekte dazu sind heute sehr vielfältig und bunt", erklärt Gerhard Wiesler, Vorstand und Mitgründer vom Verein "Demografie Exzellenz". 2020 macht eine digitale Fachveranstaltung des Vereins "Diversity" sogar zum Fokusthema (mehr zu dem Event am 25. November 2020 erfahren Sie hier). "Fachkräftemangel und Erhaltung der Leistungsfähigkeit stehen inzwischen unter neuen Vorzeichen. Wir müssen gemeinsam weiterdenken und die Anpassungsfähigkeit in den Fokus rücken."
Wandlungsfähigkeit haben die Preisträger des Demografie Exzellenz Awards in den letzten Jahren bewiesen. Während etwa das Projekt F4DIA zur Ausbildung von Multiplikatoren für die Digitalisierung bald in die vierte Runde geht, startet das Angebot "Quali Plus Wertzeit", das älteren Menschen in Phasen von Umstrukturierung einen attraktiven Aus- und Umstieg rmöglicht, gerade richtig durch (lesen Sie hier Teil 1 unserer Serie zum Demografie-Management).
Demografie-Projekt von Vaude gibt Geflüchteten "Starthilfe"
Die Euphorie ist aber nicht bei allen Siegerprojekten des Demografie Exzellenz Awards noch so groß wie zu Beginn. Beim Outdoorausrüster Vaude, der 2017 mit dem Projekt "Starthilfe für Geflüchtete" ausgezeichnet wurde, ist inzwischen eine gewisse Ernüchterung eingetreten. 2016, im Jahr von "Wir schaffen das", engagierten sich viele Mitarbeiter des Unternehmens aus Tettnang in Geflüchteten-Initiativen. Eine Helfer-Gruppe rief einen Tag der offenen Tür ins Leben, bei dem Geflüchtete eine Art Karriereplan mit Bewerbertraining machen konnten. "Wir haben mit 20 Leuten gerechnet, dann waren es rund 100 – die rannten uns richtig die Bude ein", erinnert sich Personalleiterin Miriam Schilling. Dabei fiel auf, dass viele Geflüchtete Schneider waren oder nähen konnten. "Uns fehlen keine gut ausgebildeten Fachkräfte, sondern Leute, die sich nicht zu schade sind, in der Produktion zu arbeiten." Am Bodensee könnten viele Betriebe, die weniger Wert auf Nachhaltigkeit legen oder nicht aus der Textilbranche kommen, höhere Gehälter bieten. Vaude startete zunächst ein Spendenprojekt: eine Nähwerkstatt, in der Geflüchtete bei der Fertigung von großen Shopper-Taschen aus Stoffresten zehn Wochen lang an Freitagnachmittagen mitarbeiten konnten.
Einige der Geflüchteten beschäftigte Vaude dann weiter, zunächst in befristeten Arbeitsverhältnissen wie in der Produktion üblich, aber mit einer langfristigen Jobperspektive. Vaude half bei der Wohnungssuche, der Einrichtung mit Möbeln und bot kostenlose Deutschkurse. Es gab Workshops zum Thema interkulturelle Zusammenarbeit. "Wir waren ein bisschen blauäugig und haben nicht darauf geachtet, ob die Menschen überhaupt eine Bleibeperspektive hatten. Teilweise war das sehr belastend – nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihre Kollegen. Nie wussten wir, ob sie bald abgeschoben werden", so die Personalleiterin. Inzwischen sind zwölf Geflüchtete bei Vaude tätig, doch die Erfahrungen waren nicht nur positiv. Einige wenige hatten keine Motivation, Deutsch zu lernen, oder konnten sich nicht mit den Regeln der Arbeitswelt in Deutschland anfreunden – etwa mit der Tatsache, dass man pünktlich zur Arbeit kommt und sich krankmeldet. "Den meisten Geflüchteten, die hier arbeiten, können wir aber voll vertrauen", betont Schilling.
Projekt für Geflüchtete: Von der Euphorie zur Normalität
"Wir waren anfangs stark getrieben von unserem Helfersyndrom", so Schilling. Man habe die Geflüchteten mit Samthandschuhen angefasst. "Die meisten wünschen sich nur, dass sie ganz normal behandelt werden, wie alle anderen Beschäftigten auch." Heute mache man klar, was zu einem Arbeitsverhältnis gehört, welche Rechten und Pflichten es beinhaltet. Wenn sich jemand nicht daran halte, gelinge es inzwischen besser, deutliche Ansagen zu machen. Inzwischen übersetze man die wichtigsten Informationen auf Englisch und Arabisch. Doch in Sondersituationen, wie der Corona-Zeit, könnten sich Sprachbarrieren immer noch als problematisch erweisen. Ein Mitarbeiter hatte beispielsweise nicht verstanden, dass er bei Symptomen zuhause bleiben musste und war trotz Fieber am Vortag zur Arbeit erschienen.
Sind Sonderprojekte für einzelne Zielgruppen zielführend?
Aufgrund der Erfahrungen aus dem Projekt zweifelt Schilling jedenfalls daran, dass Sonderprojekte für einzelne Zielgruppen zielführend sind. Das sei zwar kurzfristig manchmal sinnvoll, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Aber auf lange Sicht bevorzugt sie einen anderen Weg, beispielsweise in Sachen Altersdiversität. Der Outdoorausrüster bleibe ein junges Unternehmen, auch wenn der Altersdurchschnitt zuletzt leicht auf 38 Jahre gestiegen sei. "Wir gelten als jung und sportlich, da müssen wir aufpassen, dass sich ältere Beschäftige nicht ausgegrenzt fühlen. Aber wenn wir die Bedürfnisse unserer Mitarbeiter wahrnehmen, dann sollten wir allein über unsere Kultur eine gute Integration hinbekommen."
Thielkasse bietet zwei Kurse für die Pflege der Eltern
Damit alle Menschen ihre volle Leistungsfähigkeit abrufen können, kommen beim Demografie-Management auch Vereinbarkeitsthemen ins Spiel. "Wie wir Beruf und Kinder unter einen Hut bringen – das haben viele Unternehmen auf dem Schirm. Aber heute gehen wir häufiger zu Beerdigungen als zu Taufen: Jeder zehnte Beschäftigte erlebt eine Pflegesituation der eigenen Eltern", erklärt Jenny Schönfeld. Sie verantwortet den Bereich Vereinbarung von Beruf und Pflege bei der Alfred Thiel-Gedächtnis-Unterstützungskasse, kurz Thielkasse. Das Joint Venture der RWE Power AG und der Westenergie AG, bediente ursprünglich als interner Dienstleister die rund 50.000 Konzernbeschäftigten von RWE und Innogy, stellte sich aber im Zuge der Umstrukturierung der Energiekonzerne neutral auf und bietet seine Leistungen auch extern an. "Uns fragten immer mehr Leute nach Rat zum Thema Pflege." In vielen Fällen war die Pflegesituation schon akut, die Mutter beispielsweise gestürzt und mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. "Wir haben uns überlegt, wie wir die Mitarbeitenden unterstützen können, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist."
So entstand 2018 die Idee für die beiden Pflegekurse "Wenn Eltern alt werden" und "Wenn Eltern alt sind", die im gleichen Jahr mit dem Demografie Exzellenz Award ausgezeichnet wurden. Der erste Kurs widmet sich präventiv dem Thema. Dabei geht es vor allem um den Rollenwechsel zwischen Eltern und Kindern: "Während Papa mir bisher immer geholfen hat, die Reifen zu wechseln, fragt er mich jetzt, ob ich ihm eine Kiste Wasser in die Wohnung tragen kann", gibt die Projektverantwortliche ein Beispiel. Viele Beschäftigte wüssten nicht, wie sie mit ihren Eltern über deren Pflegebedürftigkeit oder den Tod sprechen könnten. Wenn Mitarbeiter bereits in einer akuten Pflegesituation stecken, greift der zweite Pflegekurs: Hier dreht sich alles darum, wie man den Pflegealltag organisieren oder verbessern kann.
Demografischer Wandel: Pflege der Eltern ist ein Tabu-Thema
Die Pilotkurse waren sofort ausgebucht – 50 Mitarbeiter nahmen teil. Schon 2019 konnte die Thielkasse die Teilnehmerzahl auf 100 verdoppeln, wobei vor allem der Präventionskurs boomte. "Den meisten geht es nicht nur um die Seminarinhalte, sondern auch um Austauschmöglichkeiten. Die geringere Resonanz des zweiten Seminars erklärt sich vor allem dadurch, dass Beschäftigte in der Pflegesituation andere Sorgen haben, als drei Tage ein Seminar zu besuchen", resümiert Schönfeld. Da 2020 coronabedingt vor Ort nur eingeschränkt Weiterbildungen möglich waren, denkt die Thielkasse nun über Online-Varianten nach. Beim ersten Lockdown waren viele Beschäftigte in einem akuten Pflegenotstand – viele Pflegedienste hatten ihren Service eingestellt und zahlreiche Berufstätige mussten die Pflege der Eltern nebenbei stemmen – oft zusätzlich zur Kinderbetreuung. Die Thielkasse bietet deshalb eigene Online-Vorträge zu dem Thema an. Denn während Medien sich mit Tipps für das Homeoffice mit Kindern überschlugen, blieben Informationen zum Thema Pflege von Angehörigen weitgehend aus.
"Das Thema Pflege der Eltern ist noch immer ein Tabu. Viele Mitarbeitende denken, dass sie die Pflege privat regeln müssten, weil sie sonst im Job als nicht belastbar gelten", hat Schönfeld beobachtet. Außerdem glaubten viele, dass sich nur ältere Menschen mit Pflegethemen beschäftigen. "So manche Kontakte von mir sind überrascht, wenn sie mich das erste Mal treffen, weil sie dachten, ich müsse mindestens Mitte 50 sein", so die 35-Jährige. Das betriebliche Unwissen liege unter anderem daran, dass Unternehmen bei Diskussionsrunden von Politik, Forschung, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen oder Pflegekassen schlicht nicht mitgedacht würden. "Auf Veranstaltungen zum Pflegenotstand bin ich häufig die einzige Unternehmensvertreterin. Dabei haben doch Unternehmen neben den sozialen Aspekten auch großes wirtschaftliches Interesse, dass das Thema Alter und Pflege gut 'gerockt' wird."
Das könnte Sie auch interessieren:
Hybrides Arbeiten: Altersgemischte Teams drohen auseinanderzubrechen