Mit Methode die Marke stärken
Früher war die Produktentwicklung ein jahrelanger Prozess, der hinter verschlossenen Türen von Ingenieuren ausgetüftelt wurde. Wenn das Produkt dann fertig war, übergab man es dem Vertrieb und informierte das Marketing, damit diese das Produkt an den Kunden bringen. Das barg jedoch hohe Risiken. Im schlimmsten Fall konnte es passieren, dass sehr viel Geld in die Entwicklung gesteckt wurde, das neue "Superprodukt" aber wenige bis keine Abnehmer fand.
Mit Innovationsmethoden wie Design Thinking werden Produkte oder Services entwickelt, die Kundenprobleme lösen. Diese Philosophie der kundenzentrierten Produktentwicklung kann auch für den Aufbau einer starken Arbeitgebermarke angewendet werden – mit dem kleinen Unterschied, dass keine Endkunden, sondern (potenzielle) Bewerbende und Mitarbeitende adressiert werden.
Grundsätzlich ist Design Thinking nicht nur ein Prozess zur Produktentwicklung, sondern auch Mindset und Werkzeugkasten. Das Mindset wird sichtbar in der Arbeit in interdisziplinären Teams, die Wissen teilen, neugierig und offen sind und verschiedene Perspektiven ins Team einbringen. Feedback einzuholen und Ideen zu verwerfen, gehört genauso zum Mindset, wie sich emphatisch in die Bewerbenden oder Mitarbeitenden hineinzuversetzen. Werkzeugkasten bedeutet, dass innerhalb des Design-Thinking-Prozesses unzählige Methoden zur Auswahl stehen und je nach Zielsetzung die passenden angewendet werden.
In der klassischen Variante von Design Thinking gibt es sechs Phasen. Die ersten drei beschäftigen sich mit dem Verstehen des Problems und den Kundenbedürfnissen. Erst wenn klar ist, für wen welches Problem gelöst werden soll, generiert man möglichst viele Ideen und sucht die besten heraus, erstellt einen Prototyp und testet diesen beim Kunden.
Mithilfe eines Praxisbeispiels werden die einzelnen Phasen von Design Thinking in den Kontext von Employer Branding übertragen und erklärt.
Die Vorbereitung: Design Challenge und Team
Bevor der Design-Thinking-Prozess startet, braucht es eine Challenge. Diese sollte als offene Frage formuliert werden, darf nicht zu allgemein oder zu eng formuliert sein und keiner Lösung vorgreifen. Die Formulierung "Wie können wir eine unverwechselbare Arbeitgebermarke mit Magnetwirkung entwickeln?" ist keine geeignete Design Challenge! Diese Formulierung wäre viel zu weit. Gerade zu Beginn sollte darauf geachtet werden, dass sich das Team nicht mit einem zu breiten Thema übernimmt.
Tipp: Machen Sie nicht alle "Baustellen" auf einmal auf, sondern beginnen Sie mit den für Sie wichtigsten Themenclustern und Mitarbeitergruppen.
Eine Aufwand-Nutzen-Matrix kann bei der Priorisierung helfen. Sie sortieren Ihre Themen nach dem vermuteten Aufwand und dem angenommenen Nutzen und beginnen mit den Themen, die für Ihre Organisation den höchsten Mehrwert in Aussicht stellen.
Design Challenge – ein Beispiel
Ein mittelständisches Unternehmen hat das Problem, dass sich zu wenig Studierende aus den technischen Studiengängen für die ausgeschriebenen Werkstudierenden- und Praktikumsstellen bewerben. Gerade aus dieser Gruppe wird jedoch das künftige Personal für Produktentwicklung, Konstruktion und Anwendungsentwicklung rekrutiert.
Eine Design Challenge könnte so lauten: "Wie schaffen wir es, dass technikbegeisterte Studierende für uns als Arbeitgeber Feuer fangen?" Wenn die Challenge steht, muss ein interdisziplinäres Team zusammengestellt werden. Im Beispielunternehmen werden Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachbereichen ins Team eingeladen. Es empfiehlt sich, auch Studierende aus der eigenen Organisation mit einzubinden.
Die optimale Teamgröße liegt zwischen fünf und acht Personen. Bei der Auswahl der Teammitglieder sollte darauf geachtet werden, dass diese über ein sogenanntes T-Profil verfügen. Das heißt, sie besitzen ein in die Tiefe gehendes Expertenwissen in ihrem Gebiet (vertikaler T-Balken) und sind neugierig, offen und bereit, ihr Wissen mit anderen Teammitgliedern zu teilen (horizontaler T-Balken).
Phase eins: Verstehen
In der ersten Phase geht es darum, möglichst viele Informationen zum Thema zu sammeln. Die Design Challenge wird im Team besprochen und Verständnisfragen werden geklärt. Im Anschluss startet die Recherche. Es werden Trends und Studien recherchiert, Zeitschriftenartikel ausgeschnitten und Fotos erstellt. Ziel ist, das Team auf den gleichen Stand zu bringen und zu "Sofort-Experten" zu machen. Das Team macht sich in dieser Phase auch Gedanken, wie und wo Personen für die Challenge befragt werden könnten. Zum Abschluss der Phase beginnt die Vorbereitung für die Interviews.
In unserem Praxisbeispiel analysiert das Team zunächst die Challenge. Es wird gefragt, diskutiert und visualisiert, zum Beispiel: Um welche Studiengänge geht es genau? Wie viele Studierende bewerben sich aktuell? Wo genau gibt es zu wenig Bewerbungen? Danach wird die Candidate Experience Journey aufgezeichnet, indem der Weg, den Studierende bis zur Vertragsunterzeichnung durchlaufen, visualisiert wird.
Dabei ergeben sich viele offene Punkte: Wie hören die Studierenden das erste Mal von uns? Was hören sie über uns? Wo treffen sie uns wieder? Was gibt den Ausschlag für die Bewerbung? Insbesondere die Stimmungslage der Studierenden an den einzelnen Touchpoints werden dargestellt. Aus der Candidate Experience Journey ergeben sich viele Vermutungen, die das Team genauer erforschen will. Es wird ein Interviewleitfaden erstellt und Interviewtermine mit einigen Werkstudierenden, Praktikantinnen und Praktikanten werden vereinbart. Auch die anstehende Hochschulmesse soll für intensivere Gespräche mit Studierenden genutzt werden.
Phase zwei: Beobachten
In der zweiten Phase dreht sich alles um das Gespräch mit den vorher definierten Bewerber- oder Mitarbeitergruppen. Das Motto lautet: "Raus aus dem Büro, rein in den Dialog". Hierbei werden explorative Interviews geführt und O-Töne gesammelt. Damit ist keine Mitarbeiterbefragung gemeint. Es geht darum, Zitate einzufangen und an Probleme heranzukommen, die nicht offensichtlich sind. Das funktioniert nicht mit Multiple-Choice-Befragungen.
Warum ist diese Phase wichtig? Wir wissen aus der Produktentwicklung, dass Produkte und Services nur dann gekauft werden, wenn sie für die Kundinnen und Kunden ein relevantes Problem lösen. Aus Kundensicht zu denken, ist in der Produktentwicklung der zentrale Erfolgsfaktor. Das Gleiche gilt beim Employer Branding.
Tipp: Empathie, Fragetechniken und aktives Zuhören sind wichtige Interviewer-Skills. Wählen Sie für die Interviews die Teammitglieder aus, die diese Aufgabe gerne übernehmen möchten. Denn es geht immer auch um eine positive Gesprächsatmosphäre, Vertrauen und ein Eintauchen in die Welt der Gesprächspartner.
Beispielfragen für die Interviews könnten sein:
- Wer hat Ihre Berufswahl beeinflusst?
- Was hat Sie dazu bewogen, bei uns einzusteigen? Welche Alternativen gab es?
- Wer hat Ihnen zugeraten? Aus welchen Gründen?
- Wer hat Ihnen abgeraten? Warum?
- Warum haben Sie bei der anderen Stelle abgesagt?
- Was begeistert Sie bei uns? Was nervt?
- Wie müsste Ihr Traumpraktikumsplatz aussehen?
Die Interviewerinnen und Interviewer bereiten die Gespräche nach, indem sie spannende Zitate festhalten. Bestenfalls haben sie auch Fotos ihrer Interviewpartner aus ihrem Alltag im Gepäck. Das Team kommt wieder zusammen, um die Erkenntnisse zu teilen. Es wird nach Mustern gesucht und nach Gemeinsamkeiten, Widersprüchen, Motivationen und Überraschungen sortiert.
Phase drei: Synthese
Aus den Interviews hat das Team verschiedene Probleme und Bedürfnisse herausgefunden. Jetzt geht es darum, die wichtigsten Bewerber- oder Mitarbeitergruppen nach ihren Bedürfnissen zu clustern. Dafür hilft die Candidate Persona. Diese wird aus den vorher geführten Interviews generiert, bleibt aber immer fiktiv. Damit sich das Team in die Candidate Persona besser hineinversetzen kann, bekommt sie einen Namen, ein Foto und biografische Grunddaten, sowie Ausbildung und Skills. Auch Mediennutzung, Freundeskreis und Freizeitaktivitäten fließen mit ein.
In unserem Beispiel erstellt das Team drei Personas. Eine davon ist Tom, 22, angehender Elektroingenieur, Kaffee-Junkie. Er ist genervt von Social Media, hasst "Bewerbungskram", sein letztes Praktikum hat ihm ein Kommilitone verschafft. Am Ende der Phase wird eine Problemstellungsfrage formuliert. Für Tom könnte diese lauten: "Wie können wir für Tom ein persönliches und einfaches Kennenlernerlebnis mit unserem Unternehmen schaffen?" Diese Frage ist kein Widerspruch zur Design Challenge, sondern eine Präzisierung. Damit beginnt in der nächsten Phase die Suche nach der Lösung.
Phase vier: Ideen generieren
Auf Basis der zuvor formulierten Frage zur Problemstellung geht es in dieser Phase darum, möglichst viele Ideen zu finden, die das Problem für die Persona lösen. Dabei steht zunächst die Quantität im Vordergrund. Insbesondere in dieser Phase kommt die große Stärke eines interdisziplinären Teams zur Geltung. Je heterogener das Team ist, desto spannender können die generierten Ideen ausfallen. In unserem Beispiel konzentriert sich das Team auf das Problem von Tom, dass er es "hasst", Bewerbungen zu schreiben und auf die Erkenntnis, dass er bei der Stellenauswahl stark auf persönliche Kontakte vertraut.
Es entstehen zunächst viele Ideen, die nahe liegend sind. Beispielsweise ein extrem vereinfachter Bewerbungsprozess oder eine intuitive Benutzerführung auf der Karriereseite. Wenn sich das Team in einer zweiten Runde mit Kreativitätstechniken "warmgelaufen" hat, kommen dann die spannenden Ideen. Das Team entwickelt die Idee eines Studierenden-Cafés, das alle zwei Monate stattfindet und von den eigenen Studierenden organisiert wird. Im Studierenden-Café werden Technik-Workshops abgehalten und die Gäste können in lockerer Atmosphäre mit den Fachbereichen plaudern.
Diese Design-Thinking-Phase endet mit der Bewertung der Ideen durch eine erste subjektive Einschätzung der Teammitglieder. Sinnvolle Bewertungskriterien werden von den Teammitgliedern festgelegt, zum Beispiel nach Umsetzbarkeit, Nutzen oder Wow-Effekt.
Phase fünf: Prototyp bauen
In dieser Phase werden aus den Favoritenideen einfache Prototypen gebaut. Ziel ist, eine Idee und ihren Nutzen möglichst einfach darzustellen. Durch das Bauen eines Prototyps wird die Kreativität angeregt und es können dabei weitere Ideen entstehen. Dadurch wird aus einem theoretischen Konstrukt eine lebendige Idee, die diskutiert und verbessert werden kann. Insbesondere bei außergewöhnlichen Ideen ist dies die einzige Möglichkeit, ein bis dato noch nicht vorhandenes Produkt oder einen Service so darzustellen, dass man dazu Feedback bekommen kann.
Für unser Beispiel baut das Team das Studierenden-Café mit mehreren Lego-Sets auf. Ideen für Workshop-Themen für diese Events werden dargestellt. Die benötigten Kolleginnen und Kollegen finden ihren Platz als Figuren.
Eine zweite Gruppe zeichnet ein Mockup (digitaler Entwurf einer Website) für die vereinfachte Bewerbung. Ein virtueller Bewerbungsassistent entsteht spontan als neue Idee und wird mit aufgenommen. Am Ende dieser Phase gibt es mehrere Prototypen und Fragen, die sich während des Bauens aufgetan haben. Diese sollen in der nächsten Phase beantwortet werden.
Phase sechs: Testen
Mit den erstellten Prototypen geht das Team zur relevanten Bewerber- oder Mitarbeitergruppe und holt Feedback ein. Es geht darum herauszufinden, ob deren Bedürfnisse erfüllt werden oder wie der Prototyp verbessert werden kann. Diese Schleife kann einige Male wiederholt werden. Unter Umständen kann es passieren, dass das Team wieder zurück in die ersten drei Phasen springen muss, wenn sich herausstellt, dass es an den Bedürfnissen „vorbei entwickelt“ hat.
Das Team mit dem Studierenden-Café schickt eine Anfrage an die Hochschule, ob es möglich wäre, in einem Mini-Workshop den Prototyp mit den Studierenden zu testen und so Feedback zu erhalten. Die Gruppe mit dem Website-Mockup lädt alle Werkstudierenden, Praktikantinnen und Praktikanten zu einem Feedback-Workshop ein.
Beide Teams erhalten wertvolle Impulse von den Studierenden und bauen diese in ihre Prototypen ein. Das Design-Thinking-Team leitet aus den Prototypen die weiteren Schritte und Maßnahmen ab. Es entstehen Projektteams, die sich um die Umsetzung kümmern.
Design Thinking: Viel Aufwand, der sich rechnet
Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand für die Weiterentwicklung der Arbeitgebermarke? Um diese Frage beantworten zu können, muss das Thema differenzierter betrachtet werden. Der Design-Thinking-Prozess stellt sicher, dass das Unternehmen Ideen entwickelt, die relevant für die Bewerbenden und Mitarbeitenden sind. Auf den ersten Blick ist die Erforschung der Bedürfnisse mit Aufwand und Zeit verbunden. Letzten Endes senkt das Unternehmen jedoch das Risiko, dass irrelevante Ideen weiterverfolgt werden, was zu Frustrationserlebnissen des Teams und der Mitarbeitenden führen würde.
Es gibt noch einen weiteren, sehr wichtigen Effekt: Design Thinking zählt zu den agilen Methoden. Wenn ein Unternehmen agiler werden will, ist Design Thinking ein sehr guter Einstieg. Die Methode ist leicht verständlich und setzt am agilen Mindset an. Die Zusammenarbeit über Abteilungsgrenzen hinweg wird gefördert. Es wird eine Lernkultur etabliert und eine positive Einstellung zu "einfach mal machen" gefördert. Und es wird die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Empathie für Kunden- und Mitarbeiterbedürfnisse zu entwickeln, trainiert. All das sind Fähigkeiten, die in der sich stark verändernden Arbeitswelt essenziell sind.
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