Wer auf die Frage nach den großen Trends unserer Zeit nicht die Digitalisierung nennt, outet sich als schlecht informiert. Als ein Megatrend der 4.0-Welten scheint sie überall angekommen zu sein. Und es gibt kaum einen Kongress oder eine Veranstaltung, die sich nicht mit den Auswirkungen technologischer Sprünge, dem Internet der Dinge oder Big Data beschäftigt.
Schwer beeindruckt war ich im vergangenen Monat von der Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit, mit der sich der DGFP Congress in Berlin des Themas angenommen hat. Dort wurde neben den allgegenwärtigen Buzzwords sehr genau hinter die Kulissen geschaut, und die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt wurden detailliert beleuchtet.
HR-Realos fragen zuerst nach Datenschutz
Einige meiner – durchaus subjektiven – Erkenntnisse zur Digitalisierung in der HR-Funktion und insbesondere in der Personalentwicklung möchte ich gerne an dieser Stelle mit Ihnen teilen.
In den Personalabteilungen haben wir mit Digitalisierung, zwar unter anderen Überschriften, schon vor über zehn Jahren mit IT-Projekten vom Typ "elektronische Personalakte" begonnen, dann intensiv in die Web-2.0-Anwendungen des Employer Brandings investiert und sind heute insbesondere bei Fragen des Umgangs mit Big Data gelandet.
Mich überrascht in Beratungsprojekten zur HR-Digitalisierung immer wieder, dass von den HR-Kollegen als erstes die Frage nach Datenschutz oder Betriebsratszustimmung gestellt wird. Bei allem Verständnis für HR-Realos bin ich doch enttäuscht, dass es nicht zuerst um Visionen, um Trends und um das technisch Machbare geht, sondern wie bei einer Ohnmachtsdiskussion um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und so sind die Vorreiter der Digitalisierung im HR-Umfeld wieder einmal die Regelbrecher, die kleinen, wendigen Organisationen, die eine neue Vorstellung der Arbeitswelt von Übermorgen entwickeln wollen.
Wo HR bei der Digitalisierung eingreifen muss
Schauen wir uns die verschiedenen Felder doch einmal genauer an, bei denen HR und im besonderen Fokus die Personalentwicklung im Zuge der Digitalisierung eine Rolle zu spielen haben.
Zunächst einmal sind die Bildungspolitiker in den Konzernen, aber auch die Geschäftsführer und Personalchefs im Mittelstand gefragt, ihre Vorstellungen vom Arbeiten in einer digitalen Welt den Bildungsträgern näher zu bringen. Denn Schule und Hochschule müssen wesentliche Grundlagen dafür legen, dass die zunehmende Komplexität auch verstanden und umgesetzt wird. Digitalisierung darf nicht vor Klassenzimmer und Hörsaal stehen bleiben, die Unternehmen können nicht zum Reparaturbetrieb der Bildungseinrichtungen werden. Natürlich gibt es heute gerade in der Hochschullandschaft schon hervorragende Angebote, nur flächendeckend und eng mit den Anforderungen der späteren Arbeitsplätze verzahnt ist das Ganze zumeist noch nicht.
Der nächste wesentliche Schritt ist es, die Job-Profile digitalisierungstauglich zu machen. Eine Studie des Fraunhofer Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO) belegt die Auswirkungen der Industrie 4.0 auf die Mitarbeiter: 63 Prozent der Befragten verbinden mit Industrie 4.0 eine Flexibilisierung der Arbeitszeitsysteme im Unternehmen. Damit einher gehen die Anforderungen zu lebenslangem Lernen, interdisziplinärem Denken und Handeln, höherer IT-Kompetenz, der Fähigkeit zum Austausch mit Maschinen und in vernetzten Systemen sowie die Fähigkeit einer stärkeren Gestaltung von Innovationsprozessen. Diese Kompetenzen sind in klassischen Arbeitsplatzbeschreibungen und Kompetenzmodellen noch viel zu wenig verankert. Hier kann HR seine Gestaltungskraft nutzen.
Soziale Dialogfähigkeit muss gefördert werden
Digitalisierung verlangt schließlich auch nach neuen Formen des Dialogs. Wird auf der einen Seite für Mitarbeiter zunehmend eine Entfremdung in der Mensch-Maschine-Interaktion spürbar, so muss andererseits auf die soziale Dialogfähigkeit besonderer Wert gelegt werden: Das ist eine Aufgabe, bei der Personalentwickler in der Führungskräfteentwicklung völlig neue Wege gehen können.
Natürlich verändert die digitale Welt auch das Lernen an sich. Rein analoge Seminarreihen werden in Zukunft der Vergangenheit angehören. Die Nutzung von Smartphones und Tablets mit Content aus der Cloud für die Entwicklung von Kompetenzen wird steigen. Lernen wird individueller, unabhängig von Zeit und Ort, damit aber auch selbstverantworteter. Die Selbststeuerungskompetenzen des Lernenden müssen in diesem Umfeld besonders gut ausgeprägt sein. Fachliches Lernen wird in digitalen Anwendungen stattfinden, auch Methodenkompetenzen können so vermittelt werden. Die spielerische Vermittlung von Inhalten, Stichworte "Gamification" oder "Edutainment", nimmt ebenfalls sprunghaft zu.
Social-Media-Hype verlangsamt sich
Im Gegensatz dazu scheint sich der Social-Media-Hype zu verlangsamen. Sowohl im Personalmarketing wie auch in der Personalentwicklung wird nicht mehr jede Sau durchs Dorf getrieben, nur weil es eben schick ist. Die unklare Kosten-Nutzen-Relation tut ihr übriges dazu. Ob Teamlernen über Facebook oder Twitter-Coaching eine Zukunft haben, wage ich zu bezweifeln.
Klar scheint aber: Das Internet der Dinge wird folglich auch zum Internet der Human-Ressourcen. Die Vernetzung aller Instrumente, die in der modernen Personalarbeit genutzt werden, eröffnet viele neue Chancen und kreiert neue Aufgabenfelder in der HR-Funktion. Am Ende muss dann natürlich auch die Realo-Frage nach Betriebsrat und Datenschutz stehen, aber bitte erst am Ende!
Kolumnist Oliver Maassen
Oliver Maassen ist seit 2013 Geschäftsführer der Pawlik Consultants GmbH. Zuvor war er unter anderem Bereichsvorstand und Personalchef der Unicredit Bank. In seinen früheren Funktionen verantwortete er die Bereiche Personal- und Organisationsentwicklung, Führungstrainings, Personalmarketing und Talent Management.
Mehr zum DGFP Congress 2015 lesen Sie in der aktuellen Ausgabe (04/2015) des Personalmagazins.
Mehr zum Thema "Digitalisierung" finden Sie hier:
Cebit 2015: Digitalisierung könnte am Personal scheitern
Digitalisierung: Nur knapp jeder zweite Topmanager übernimmt Verantwortung
herzlichen Dank für das Lesen meiner Kolumne und insbesondere für Ihre Kommentierung, die es mir erlaubt, meine Position noch einmal etwas zu schärfen.
Ich bin selbstverständlich Ihrer Meinung, dass es für den Erfolg von Veränderungsprojekten - gleich welcher Art - unabdingbar ist, die verschiedenen Stakeholder so früh wie möglich einzubinden und wo immer es geht auch mit gestalten zu lassen. Das gilt selbstverständlich beim Thema Digitalisierung auch für Betriebsrat und Datenschutz.
Meine Kritik richtet sich an diejenigen Verantwortlichen in Unternehmen, die die Mitarbeitervertretungen oder auch die Datenschützer quasi als Schutzschild vor sich her tragen, um gar nicht erst selbst in den Veränderungsmodus gehen zu müssen. Mit diesem "Das geht doch sowieso nicht ..." wird Vision und Innovation im Keim erstickt. Und ich habe sowohl als Personalchef als auch in meiner Beratertätigkeit diese Ausrede leider viel zu oft gehört. Deshalb mein Plädoyer dafür jenseits dieser Realo-Mentalität des vordergründig Machbaren den Raum zu öffnen für Diskussionen, die neu, unerwartet, anders und dadurch in vielen Fällen zukunftsweisend sind.