Talente sind knallharten Forderungen ausgesetzt wie denen des Übervaters von General Electric, Jack Welch. Der kündigte früher auf einer Jahreshauptversammlung sein Mantra zur Leistungssteigerung an: "Wir haben uns selbst das Ziel gesetzt, eine fehlerfreie Firma zu werden." Nullfehler-Toleranz ist nicht nur dort zum Kristallisationspunkt aller Unternehmensabläufe geworden. Sie mag in hochsensiblen Systemen wie etwa Kraftwerksteuerung, Chemieproduktion und Pilotenkanzeln durchaus ihre Einhundertprozent-Berechtigung besitzen.
Kurze Rückschau
Soeben ging im Fußball die WM zu Ende, höchst erfreulich. Mehr noch als das Finale wird "unser" epochales Spiel gegen den Gastgeber Brasilien in Erinnerung bleiben. Als "Man of the Match" wurde Toni Kroos gekürt, mit einer Zuspielquote von ordentlichen 93 Prozent bei immerhin fünf Fehlpässen und einer Zweikampfquote von gerade einmal 50 Prozent. Jack Welch hätte Toni Kroos vermutlich noch vor seinen beiden Toren ausgewechselt und beim Finalspiel nicht mehr aufgestellt.
Als Erfinder der 20-70-10-Regel hätte Welch den Kicker wegen dessen mieser Zweikampfquote bestimmt nicht zum Talent erhoben. Übersetzt in die Sprache des früheren GE-Chefs wäre Toni Kroos mit seiner Anfälligkeit für Fehler kein "Star", sondern zählt zu den 70 Prozent "Arbeitsbienen" samt ständiger Abrutschgefahr in Richtung der zehn Prozent "Zitronen".
Unterschiedliche Fehlerkulturen
Soziale Gruppen entwickeln stets eine Norm zum Umgang mit Fehlern ihrer Mitglieder und deren Folgen. Der Organisationssoziologe Chris Argyris meinte, Lernen sei das Aufdecken und Verbessern von Fehlern. Die man deshalb erst einmal machen muss. Von Unternehmen forderte er ein hohes Maß an konstruktiver Fehleroffenheit. Seinen Gedanken weitergesponnen heißt dies, dass für Talent Management diese fehlertolerante Kultur eine wichtige normative Basis darstellt.
Wenn das für strebsame Talente nicht eine enorm erleichternde Botschaft ist. Dem knalligen Nullfehler-Manager wird künftig der talentierte Nachwuchs abspringen. Denn für Talent Management ist es ein großer Fehler, die Fehlerangst von Talenten zu schüren und ständig mit Perfektionszwängen zu appellieren.
Zum Glück heißt in diesen wunderbaren Tagen "unser" Bundes-Jogi nicht Jack Welch. Obwohl auch ich den Toni spätestens dann vom Platz genommen hätte, wenn er beim Finale am entscheidenden Gegentor schuld gewesen wäre. Denn im Fußball hat meine Fehlertoleranz rasche Grenzen.
Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.