Krieg in der Ukraine: Umgang mit Ängsten von Beschäftigten

Der Krieg in der Ukraine lässt niemanden unberührt. Das merkt auch Kerstin Hillbrink, die Beschäftigte im Rahmen der externen psychologischen Gesundheitsberatung des BAD unterstützt. Den Schwerpunkt ihrer Beratung bildet aktuell der Umgang mit Ängsten aufgrund des Krieges.

Haufe Online-Redaktion: Die tägliche Arbeit erscheint gerade vielen surreal. Wie kann man ruhig bleiben, wenn noch nicht einmal zwei Flugstunden entfernt Krieg herrscht und Menschen durch Bombeneinschläge und Raketen ums Leben kommen?

Kerstin Hillbrink: Angst ist ja zunächst eine Emotion, die sich nicht direkt steuern lässt. Irgendetwas triggert mich, erinnert mich, manchmal sind es auch von anderen auf mich übertragene Ängste, die dann aufkommen. Diese Gefühle lassen sich nicht verhindern, sie sind nun einmal da; und es wäre auch nicht sinnvoll, sie zu verdrängen. Angst möchte gesehen werden. Schaut man weg und ignoriert sie, desto mehr stört sie.

Ich möchte dies an einem Bild festmachen: Wenn ich Höhenangst habe und nur auf kleine Hügel statt auf einen großen Berg gehe, spüre ich meine Angst nicht so stark. Das führt aber dazu, dass die Angst vor der Höhe immer stärker wird. Vermeidung vor Konfrontation erhöht Ängste. Wichtig ist es also, sich genau anzuschauen: Was genau macht mich ängstlich an der Situation? Wie groß ist die Gefahr tatsächlich?

Umgang mit der Angst vor dem Ukraine-Krieg

Haufe Online-Redaktion: Wie wirkt sich diese Angst bei Mitarbeitenden in Deutschland aus? 

Hillbrink: Zu uns in die Beratung kommen aktuell sehr viele Menschen, die aufgrund der Situation und der damit verbundenen Ängste schlecht schlafen, zum Teil sogar über Panikattacken berichten. Da ist das Ausblenden keine gute Lösung. Hier ist der erste Schritt: Die Angst zu akzeptieren, sie darf da sein. Wir neigen dazu, das nicht zuzulassen, denn es fühlt sich ja unangenehm an und wir wollen uns wohlfühlen. In einem zweiten Schritt gilt es dann zu überlegen, was mich beruhigen kann, was ich brauche. Denn letztendlich ist es – leider – so, dass sich nichts ändert an dem Schrecklichen, was gerade passiert; auch nicht, wenn ich nachts grüble.

Haufe Online-Redaktion: Der Krieg ist nach der langen Corona-Zeit nun eine weitere Belastung. Viele arbeiten noch im Homeoffice oder sind wegen Corona in Quarantäne. Funktioniert ein Verarbeiten allein im stillen Kämmerlein?

Hillbrink: Das halte ich für schwierig, nahezu für unmöglich. Was Menschen grundsätzlich Halt gibt sind Beziehungen, soziale Kontakte zu anderen Menschen, mit denen sie sich austauschen können. Sind persönliche Treffen corona-bedingt nicht möglich, dann ist die Alternative, das auf digitalem Weg zu tun, oder telefonisch. Das ist essenziell, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Es gibt natürlich auch Menschen, die allein sind, keine Familie haben. Doch wir haben in Deutschland ein gutes Netz an sozialen Einrichtungen, Anlaufstellen, wo man sich mit anderen Menschen austauschen kann. Es ist wichtig, über die Ängste zu reden, sich verstanden zu fühlen und mitzukriegen, wie andere damit umgehen.

Führungskräfte sind natürlich keine Therapeuten, aber oftmals hilft es schon, da zu sein." – Psychologin Kerstin Hillbrink


Haufe Online-Redaktion: Was raten Sie Führungskräften, die merken, dass Ihre Beschäftigten mit der Sorge um die Ukraine stark belastet sind?

Hillbrink: Wichtig scheint mir, die Botschaft an ihre Mitarbeitenden richten: Es darf sein, dass ihr euch ängstigt, und Redebedarf habt. Ich erlebe momentan, dass die Gesprächsbereitschaft sehr hoch ist. In diesem Kontext ist es positiv zu sehen, dass Menschen jetzt sozusagen eine Erlaubnis haben, über Ängste zu reden. Viele haben vielleicht schon vor dem Krise Ängste gehabt, durften oder wollten diese aber nicht aussprechen. Gesprächsangebote an Mitarbeitende sind also sehr wichtig. Führungskräfte sind natürlich keine Therapeuten, aber oftmals hilft es schon, da zu sein. Habe ich die Wahrnehmung, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin es nicht allein schafft, ist es natürlich sinnvoll, professionelle Beratung anzubieten oder auf diese hinzuweisen.

Auch Führungskräfte dürfen schwach sein

Haufe Online-Redaktion: Wie wird denn den Führungskräften selbst geholfen, mit dieser Situation umzugehen?

Hillbrink: Auch nicht anders als den Mitarbeitenden. Als schwierig gestalten sich oft Konstrukte, in denen Führungskräfte denken, sie müssten jetzt besonders stark sein. Es ist keine gute Option, das Bild zu erzeugen, dass ich keine Schwäche zeigen darf, der Fels in der Brandung sein muss und in Wirklichkeit zerbröckle ich innerlich gerade in tausend Stücke. Das kann richtig schiefgehen. Auch Führungskräfte dürfen sich erlauben, in dieser Situation schwach und hilflos zu sein, sich unwohl zu fühlen.

Gesprächsbereitschaft zu signalisieren und auch die eigenen Ängste gegenüber Mitarbeitenden zu thematisieren, ist sicherlich ein guter Weg. Und es gilt das gleiche wie für Mitarbeitende auch: Merke ich, es beschäftigt mich so stark, dass ich nachts nicht mehr schlafen kann oder bekomme ich Panikattacken, ist es an der Zeit, sich professionelle Hilfe zu holen.

Beschäftigte aus der Ukraine und Russland: was Führungskräfte jetzt tun sollten  

Haufe Online-Redaktion: Wie kann denn die Führung damit umgehen, wenn im eigenen Team Menschen aus Russland oder der Ukraine beschäftigt sind?

Hillbrink: Der Idealfall ist: es gibt keine Schuldzuweisungen, keine Anfeindungen, denn es ist ein Krieg von Putin und kein Krieg der Russen generell. Und man sieht sich als Menschen und Kollegen, die zusammenarbeiten. Im Idealfall wäre es also gar kein Thema. Wird es das doch, muss es angesprochen werden. In so einem Fall rate ich auch dazu, einen externen Moderator einzubeziehen, das Team ins Gespräch kommen lassen, sich auszutauschen. Wir sehen in den sozialen Medien, wie Menschen wutentladen auf russische Mitbürgerinnen und Mitbürger losgehen. Das hat viel mit dem eigenen Angsterleben zu tun. Passiert so etwas im Team, sind weder Führungskräfte noch Mitarbeiter in der Lage, zu sortieren und zu sagen: Da entlädt sich gerade die Angst einer Person über Aggression und Abwertung. In so einem Fall sollte externe Hilfe mit ins Boot geholt werden.

Auch Führungskräfte dürfen sich erlauben, in dieser Situation schwach und hilflos zu sein, sich unwohl zu fühlen. Gesprächsbereitschaft zu signalisieren und auch die eigenen Ängste gegenüber Mitarbeitenden zu thematisieren, ist sicherlich ein guter Weg." – Psychologin Kerstin Hillbrink


Haufe Online-Redaktion: Oft erschwert das Gefühl von Hilflosigkeit oder Ohnmacht die Situation zusätzlich.

Hillbrink: Aber es gibt Möglichkeiten, aus diesem Gefühl rauszukommen. Hier muss jeder seinen individuellen Weg finden. Für den einen mag das die Teilnahme an einer Demonstration sein. Damit kann man ein Zeichen setzen. Wieder andere spenden oder nehmen Geflüchtete aus der Ukraine auf. Ein anderer Weg kann sein, sich bewusst zu machen, dass es auch sehr viel Mut gibt. Dass viele Menschen aufstehen, auch in Russland; die demonstrieren gegen den Krieg, wollen es nicht hinnehmen. Solche positiven Botschaften und Nachrichten sollten wir nicht unterschätzen. Sie bewirken oftmals mehr, als wir denken.

Aus der Traumaforschung wissen wir aber auch: Selbst wenn morgen wieder alles gut wäre, der Krieg zu Ende wäre, hat uns das Ereignis aus der Sicherheit gerissen; aus dem Gefühl "wir in Europa sind sicher, uns kann nichts passieren". Letztendlich war das natürlich eine Illusion unseres Gehirns, wir sind niemals ganz sicher. Auch Corona hat uns dies schon vor Augen geführt.

Haufe Online-Redaktion: Welche Empfehlung geben Sie Beschäftigten, die Sie über das Employee Assistance Programm des eigenen Unternehmens kontaktieren? Ist es beispielsweise ein Tipp, Nachrichten und Negativschlagzeilen nicht permanent zu konsumieren?

Hillbrink: Wir vermeiden in der Regel, handfeste Tipps zu geben. Beratung bedeutet für mich, gemeinsam mit dem Anrufer oder der Anruferin, einen – vielmehr seinen beziehungsweise ihren – Weg zu finden. Sicherlich sind schlechte Nachrichten für Geist und Psyche nicht gut. Trotzdem wollen wir natürlich informiert sein. Doch es ist wichtig, nicht zu viel davon zu konsumieren und sich anzuschauen, was es in meinem individuellen Leben alles Positives gibt, auch an kleinen Dingen: ich schaue aus dem Fenster und die Sonne scheint, ich habe zu essen und zu trinken und es geht mir gut.

Häufig werden wir in den Beratungen damit konfrontiert, dass die Menschen die Wahrnehmung haben, jetzt nicht genießen zu dürfen, weil es nicht weit von hier entfernt viele gibt, die leiden und denen es furchtbar geht. Sie verbieten sich in dieser Situation selbst, glücklich zu sein oder genießen zu können. In so einem Fall sage ich: Schaut, ob ihr euch die Erlaubnis geben könnt, das Leben jetzt, so wie es für euch ist, trotzdem genießen zu können. Das heißt nicht, das Leid nicht wahrzunehmen.


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