Methoden der Fehlzeitenanalyse
Die Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) macht deutlich, was viele Unternehmen und Organisationen feststellen: Der Krankenstand ist auf Rekordhöhe. Lag er 1991 nach der Wiedervereinigung noch bei 4,89 Prozent und konnte bis 2007 auf 3,22 Prozent gesenkt werden, stieg er seitdem kontinuierlich und lag 2022 bei 5,8 Prozent. Für 2023 werden noch höhere Werte erwartet.
Steigt man tiefer in die betriebliche Praxis ein, zeigt sich, dass die Spitze der Besorgnis mit diesen Daten noch gar nicht erreicht ist. Die oben genannten Zahlen des BMG beruhen auf Berechnungen der Krankenkassen zu den ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeitsdaten. Berechnungen, die die Betriebe selbst anstellen, zeigen, dass die tatsächlichen Krankenstände sogar noch höher sind. Denn Unternehmen betrachten die tatsächlichen Arbeitsunfähigkeitstage und errechnen den Krankenstand auf Basis der ausgefallenen Arbeitstage bezogen auf die Sollarbeitstage.
Personaleinsatzplanung: interne Arbeitsunfähigkeitsstatistik ist ausschlaggebend
Dazu ein Praxisbeispiel: Ein Mitarbeiter war innerhalb eines Jahres 14 Tage krankheitsbedingt arbeitsunfähig, seine Sollarbeitstage sind Montag bis Freitag. Daraus ergeben sich für den Betrieb 10 Fehltage, die bei insgesamt 220 Sollarbeitstagen im Jahr zu einem Krankenstand von 4,5 Prozent führen. Die Berechnung der Krankenkasse fällt anders aus: Da im Betrieb die gesetzliche Regelung gilt, nach der ab dem 4. Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werden muss, hat die Krankenkasse nur die Information über 11 Krankheitstage. Krankenkassen rechnen, mangels Kenntnis des konkreten Arbeitsmodells, immer auf Basis von 365 Kalendertagen.
Ergebnis: Nach Berechnung der Krankenkassen ergibt sich aufgrund der Krankheit des Mitarbeiters ein Krankenstand von 3 Prozent.
Für die Personaleinsatzplanung und die Kostenbetrachtung der Lohnfortzahlung ist demnach alleine die interne Arbeitsunfähigkeitsstatistik des Unternehmens beziehungsweise der Organisation ausschlaggebend. Die Krankenstandsveröffentlichungen der Krankenkassen können nur zum Vergleich herangezogen werden hinsichtlich der Entwicklung, also zu Aussagen, ob der Krankenstand steigt, gleichbleibt oder sinkt.
Möglichkeiten und Grenzen der Krankenstandsanalyse
Für Unternehmen lohnt es sich, den Krankenstand ihrer Belegschaft genauer zu betrachten, auch wenn diese Kennzahl von vielen Faktoren beeinflusst wird. Zum einen bringt jeder krankheitsbedingte Ausfall von Mitarbeitenden entweder kurzfristige Änderungen in der Arbeitsplanung mit möglichen Leistungseinbußen mit sich oder erfordert die Kompensation der fehlenden Arbeitsleistung durch Überstunden von Kolleginnen und Kollegen. Zudem entstehen Kosten durch die Lohnfortzahlung, weshalb der Krankenstand als Kennzahl in vielen Unternehmen einen festen Platz im Managementbericht hat. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin [BAuA] berechnet jährlich die volkswirtschaftlichen Produktionsausfallkosten durch Arbeitsunfähigkeit, die im Jahr 2022 mit 178 Milliarden Euro einen Höchststand erreichten. Im Durchschnitt fehlten die Beschäftigten 21,3 Tage krankheitsbedingt, das sind 4 Tage mehr als im Vorjahr. Haupttreiber dieses Anstiegs ist die Diagnosegruppe Krankheiten des Atmungssystems, gefolgt von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und psychischen und Verhaltensstörungen.
Der erste Schritt bei der Krankenstandsanalyse beginnt mit der Frage, ab welchem Wert der Krankenstand zu hoch ist und wie er in einem Ampelsystem den Bereichen grün, gelb und rot zugeordnet werden kann. Es bedarf also einer differenzierteren Betrachtung der krankheitsbedingten Fehlzeiten, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich um personenbezogene Daten handelt, deren Verarbeitung auch zu einer Bewertung einzelner Personen führen kann, fast ähnlich einem Profiling. Während es für das BEM eine gesetzliche Grundlage gibt, ist dies bei anderen Analysemethoden nicht der Fall. Daher sind die datenschutzrechtlichen Aspekte im Unternehmen zu prüfen und, sofern eine Arbeitnehmervertretung vorhanden ist, mit dieser zu erörtern.
Der Klassiker: Auffälligkeiten nach Bereichen oder Mitarbeitergruppen
Zu den Klassikern einer differenzierten Betrachtung des Krankenstands zählen die Darstellungen nach Abteilungen/Bereichen im Vergleich zu den Vorjahren sowie nach bezahlt (innerhalb der Lohnfortzahlung) und unbezahlt (außerhalb der Lohnfortzahlung). Anhand dieser Auswertungen lassen sich Auffälligkeiten erkennen, für die Ableitung von Maßnahmen sind jedoch weitere Analysen erforderlich.
In diesem Zusammenhang bietet sich die Betrachtung des Krankenstands nach Altersgruppen an, zum Beispiel bis 29 Jahre, 30 bis 49 Jahre, 50 Jahre und älter. Differenzierter wäre eine Einteilung in sechs Altersgruppen (unter 20, 20-29, 30-39, 40-49, 50-59 und ab 60).
Möglicherweise wird bei einer solchen Betrachtung deutlich, dass ältere Beschäftigte einen höheren Krankenstand haben als jüngere, was sich regelmäßig so in den Statistiken der Krankenkassen zeigt. Wäre dies im Unternehmen der Fall, ergäbe sich eine Risikobetrachtung für die Altersgruppe 55+, die in den nächsten 10-12 Jahren in Rente gehen wird, innerhalb derer aber bis dahin nach der aktuellen Analyse viele Mitarbeitende aufgrund erhöhter Krankenstände fehlen werden. Kombiniert mit dem bereits bestehenden Arbeitskräfte-/Fachkräftemangel erhöht sich in diesem Szenario für das Unternehmen das Risiko, dass die geforderte Arbeitsleistung nicht erbracht werden kann. Hier bedarf es daher frühzeitig Strategien, wie mit einer solchen Entwicklung umzugehen ist und welche verhaltens- und verhältnisbezogenen Maßnahmen erforderlich sind.
Kritisch zu betrachten: Analyse aufgrund einer Pareto-Verteilung
Eine weitere spannende, aber auch kritisch zu betrachtende Analyse von Fehlzeiten ist die Überprüfung einer Pareto-Verteilung "80 zu 20". Bei dieser Analyse wird der Frage nachgegangen, ob 20 Prozent der Beschäftigten mit den höchsten AU-Tagen für 80 Prozent der gesamten AU-Tage verantwortlich sind. Trifft diese These – oder eine etwas abgeminderte Verteilung von 70 zu 30 – zu, bedeutet dies, dass bei wenigen Beschäftigten ein hoher Handlungsbedarf hinsichtlich der Fehlzeiten besteht. Das heißt, bei diesen Beschäftigten mit den höchsten AU-Tagen besteht ein hohes Gesundheitsrisiko. Hier sind individualisierte Maßnahmen erforderlich, klassische Programme wie Präventionskurse im Gruppenformat wären sicherlich nicht zielführend.
Krankenstand: Vorsicht vor reinen Durchschnittswerten
Die Betrachtung der Krankenstände erfolgt in der Regel anhand von Prozentwerten, die jedoch nicht die Verteilung der Krankenstände pro Mitarbeiter beziehungsweise Mitarbeiterin darstellen. Um hierüber eine genaue Auskunft zu bekommen, bietet sich die Berechnung des Medians und der Perzentile an. Der Median stellt die wahre Mitte einer Gruppe dar, das heißt, dass 50 Prozent der Werte unter und 50 Prozent der Werte über dem Median liegen. Damit ist der Median robuster gegenüber Ausreißern.
Dazu wieder ein Praxisbeispiel: Ein Unternehmen mit 500 Beschäftigten hat einen Krankenstand von 6,1 Prozent und betrachtet diesen Wert als "Mittelwert" für die gesamte Belegschaft. Tatsächlich aber gibt es in diesem Unternehmen viele Mitarbeitende, die keine Fehlzeiten haben und einige wenige, die einen sehr hohen Krankenstand haben. Die Berechnung des Medians in diesem Unternehmen ergibt einen Wert von 2,6 Prozent. Das bedeutet, dass 50 Prozent der Mitarbeitenden einen Krankenstand unter 2,6 Prozent haben und 50 Prozent einen höheren. Berechnet man nun weitere Perzentile, so ergibt sich in diesem Unternehmen für die Beschäftigten ohne Krankenstand das Perzentil 19, das heißt, 19 Prozent haben keinen Krankenstand. Betrachtet man das Perzentil 70, so liegt die Grenze bei 5,5 Prozent Krankenstand, das heißt, 70 Prozent haben einen geringeren Krankenstand und 30 Prozent einen höheren. Mit dieser Methode konnte gezeigt werden, dass bei einem Gesamtkrankenstand von 6,1 Prozent die deutliche Mehrheit der Mitarbeitenden (70 Prozent) weniger als 5,5 Prozent Krankenstand aufweist, 19 Prozent haben keinen Krankenstand, der höchste Krankenstand liegt bei 81 Prozent. So kann also ein wesentlich realistischeres Bild des Arbeitsunfähigkeitsgeschehens gezeichnet werden, was letztlich konkretere Schlussfolgerungen zur Auswahl der geeigneten Maßnahmen ermöglicht.
Bradford-Faktor kann Absentismus zeigen
Geht es um die Ermittlung des Absentismus, also der motivationsbedingten Abwesenheit bei Krankmeldung, kann der Bradford-Faktor herangezogen werden. Dabei handelt es sich um eine Formel, deren Entwicklung der englischen University of Bradford School of Management in den 1980er-Jahren zugeschrieben wird. Sie geht davon aus, dass kurze, aber häufige Krankschreibungen für den Betrieb störender sind als längere Abwesenheiten. Gleichzeitig beruht die Bradford-Analyse auf der Überlegung, dass das häufige und unvermittelte Fehlen einzelner Beschäftigter ein Anzeichen für Absentismus sein kann. Doch selbstverständlich können auch bei häufigen kurzen Fehlzeiten die Gründe vielfältig sein, dies macht deutlich, dass die reine Berechnung des Bradford-Faktors ohne Reflexion möglicher Ursachen für die Entstehung der AU-Fälle und -Tage zu Fehlinterpretationen führen kann.
Der Bradford-Faktor liefert zunächst nur eine Einschätzung der krankheitsbedingten Fehlzeiten, konkrete Maßnahmen müssen vom Unternehmen gefunden werden. Gerade hier besteht die Gefahr einer Fehleinschätzung durch die Führungskraft, die eine Ursache vermutet, aber keine Beweise dafür hat. Entscheidend ist daher die Gesprächsgestaltung durch die Führungskraft, die eine Lösungsfindung anstelle von Schuldzuweisungen zum Ziel hat. Richtig angewandt stellt dieser Faktor eine interessante Analyse für Führungskräfte dar, um Strategien zu entwickeln, wie sie ihr Team unterstützen können, um Fehlzeiten zu reduzieren.
Zur Berechnung des Bradford-Faktors werden die Anzahl der Krankmeldungen (Arbeitsunfähigkeitsfälle) zunächst mit sich selbst multipliziert. Dadurch soll die Bedeutung der Häufigkeit der Fälle stärker zum Ausdruck kommen. Anschließend wird diese Zahl mit der Summe aller Arbeitsunfähigkeitstage der betreffenden Person innerhalb eines Jahres multipliziert. Daraus ergibt sich eine Punktzahl, die in drei Stufen bewertet werden kann. Dabei zeigen 0 bis 200 Punkte keine, 201 bis 449 Punkte erste und ab 450 Punkte deutliche Anzeichen von Absentismus.
Praxisbeispiel: Mitarbeiter (A) hat sich in einem Jahr dreimal krankgemeldet, in Summe entstanden dabei 10 Arbeitsunfähigkeitstage. Nach der Formel 3 x 3 (AU-Fälle) x 10 (Summe AU-Tage) = 90 Punkte gibt es keine Auffälligkeiten.
Ein anderer Mitarbeiter (B) war nur einmal im betreffenden Jahr krank, dafür aber relativ lange: die Arbeitsunfähigkeit betrug 56 Tage. Hier ergibt sich nach der Bradford -Formel ebenfalls kein Handlungsbedarf: Mit 1 x 56 Punkten liegt der Score noch im unauffälligen Bereich. Ein dritter Mitarbeiter (C) hat sich sechsmal krankgemeldet – mit in Summe ebenfalls 56 AU-Tage, dies ergibt einen Punktwert von 2.016 Punkten. Nach der Logik des Bradford-Faktors wäre demnach bei Mitarbeiter (C) ein Personalgespräch bezüglich seiner motivationsbedingten Fehlzeiten erforderlich. Nach deutscher Rechtslage ergibt sich aber auch eine andere Notwendigkeit: Sowohl Mitarbeiter B wie Mitarbeiter C haben den Schwellenwert für die Einleitung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements, kurz BEM, (42 Kalendertage beziehungsweise 30 Arbeitstage bei 5-Tage-Woche) deutlich überschritten, sodass eine Einladung zum BEM durch den Arbeitgeber erforderlich wird.
Maßnahmen zur Krankenstandsreduzierung
Aus den oben genannten Analysemöglichkeiten ergeben sich Erkenntnisse für eine vertiefende Analyse, bei der die Mitarbeitenden in die Lösungsfindung einbezogen werden müssen. Die Formate reichen von einer standardisierten Befragung über Workshops, Interviews bis hin zur Einbeziehung der Beschäftigten in die Gefährdungsbeurteilung, bei der Erkenntnisse für sinnvolle und zielführende Maßnahmen gefunden werden können. Pauschale Empfehlungen helfen nicht weiter, da Fehlzeiten sehr unterschiedliche Ursachen haben können und daher Standardmaßnahmen wie Obstkorb, Gesundheitstag und Präventionsprogramme keine Abhilfe schaffen. Ein bedarfsorientiertes Gesundheitsmanagement unter Einbeziehung von Führungskräften und Mitarbeitenden wird Lösungen aufzeigen, die sowohl auf das Gesundheitsverhalten der Mitarbeitenden als auch auf die Führungsqualität und die Gestaltung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen abzielen.
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 3/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.
Das könnte Sie auch interessieren:
DAK Gesundheitsreport 2024: Krankenstand auf Rekordhoch
Top-Thema Psychische Gesundheit: Präventions-Tipps für Führungskräfte
Woran das Gesundheitsmanagement krankt ( Whatsnext Studie zum BGM)
-
Workation und Homeoffice im Ausland: Was Arbeitgeber beachten müssen
1.993
-
Essenszuschuss als steuerfreier Benefit
1.713
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
1.500
-
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
1.276
-
Probezeitgespräche als Feedbackquelle für den Onboarding-Prozess
1.249
-
Krankschreibung per Telefon nun dauerhaft möglich
1.129
-
BEM ist Pflicht des Arbeitgebers
1.031
-
Checkliste: Das sollten Sie bei der Vorbereitung eines Mitarbeitergesprächs beachten
709
-
Das sind die 25 größten Anbieter für HR-Software
514
-
Modelle der Viertagewoche: Was Unternehmen beachten sollten
390
-
Tipp der Woche: Mehr Inklusion durch KI
19.12.2024
-
Gleichstellung in Europa verbessert sich nur langsam
16.12.2024
-
Fünf Tipps für effektive Recruiting-Kampagnen zum Jahresstart
13.12.2024
-
Eine neue Krankenkasse als Zeichen der Fürsorge
11.12.2024
-
Wie Personalarbeit wirtschaftlichen Erfolg beeinflusst
10.12.2024
-
1.000 neue Fachkräfte für den Glasfaserausbau
09.12.2024
-
KI für eine inklusive Arbeitswelt
06.12.2024
-
Weihnachtsgeld: Wer bekommt wie viel?
05.12.2024
-
Mit Corporate Volunteering Ehrenamt ins Unternehmen bringen
05.12.2024
-
Die Angst vor KI lässt nach
05.12.2024