Entscheidungsstichwort (Thema)
Klage eines Schwerbehinderten gegen die Wirksamkeit einer Probezeitkündigung. Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrendes vor Ausspruch der Kündigung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Pflicht des Arbeitgebers aus § 167 Abs. 1 SGB IX bei aufkommenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen ein Präventionsverfahren durchzuführen, ist nicht auf den Zeitraum nach Ablauf der Wartezeit aus § 1 Abs. 1 KSchG beschränkt (entgegen BAG v. 21.04.206 - 8 AZR 402/14). Die Pflicht besteht also auch schon in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses.
2. Wenn das Präventionsverfahren nicht durchgeführt wird, kann dies gemäß § 22 AGG die Vermutung begründen, dass eine Kündigung wegen der Behinderung ausgesprochen wurde und damit die Vermutung, dass die Kündigung wegen des Diskriminierungsverbots in § 164 Abs. 2 SGB IX in Verbindung mit § 134 BGB nichtig ist.
3. Wegen der spezifischen Probleme, ein Präventionsverfahren vor Ablauf der "Probezeit" zum Abschluss zu bringen, gilt für die Widerlegung der Vermutung ein abgesenktes Maß der Darlegungs- und Beweislast.
4. Im konkreten Fall war die Vermutung als widerlegt zu betrachten, weil (unstreitige) Tatsachen vorlagen, die gegen die Annahme sprachen, dass die streitgegenständliche Probezeitkündigung (zumindest auch) wegen der Schwerbehinderung des Klägers ausgesprochen worden war.
Normenkette
SGB IX § 167 Abs. 1, § 164 Abs. 2; AGG §§ 7, 22; BGB § 134; KSchG § 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 20.12.2023 - 18 Ca 3954/23 - abgeändert und die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird für den Kläger zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Probezeitkündigung, die die Arbeitgeberin einem schwerbehinderten Arbeitnehmer gegenüber ausgesprochen hat und dabei insbesondere über die Frage, ob die Arbeitgeberin vor Ausspruch dieser Kündigung ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX hätte durchführen müssen.
Im Folgenden wird weiter der verbreitete Begriff "Probezeit" für die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG verwendet.
Der Kläger ist im März 1984 geboren und war damit im Zeitpunkt der hier streitigen Kündigung 39 Jahre alt. Er ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von zunächst 90 anerkannt. Im Einzelnen ist die Schwerbehinderung auf die folgenden Faktoren zurückzuführen: Hirnfunktionsstörung bei frühkindlichem Hirnschaden (Einzel-GdB 50); Stuhlhalteschwäche bei angeborener Mastdarmfehlbildung (Einzel-GdB 30); Chronisch wiederkehrendes Wirbelsäulensyndrom, Nervenwurzelreizung (Einzel-GdB 20); Krampfleiden (Einzel-GdB 40). Wegen einer Besserung des letztgenannten Krampfleidens wurde der GdB während des hier streitgegenständlichen Arbeitsverhältnisses auf 80 herabgesetzt.
Der Beklagten waren diese Hintergründe der Schwerbehinderung bis zum Gütetermin im vorliegenden Klageverfahren, der mehr als einen Monat nach Zugang der streitgegenständlichen Kündigung stattgefunden hat, nicht bekannt. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste sie nur, dass der Kläger als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 90 (später 80) anerkannt war. In dieser Kenntnis hat sie den Kläger eingestellt.
Die Parteien haben einen Arbeitsvertrag für die Zeit ab dem 01.01.2023 abgeschlossen. Vereinbart war die Tätigkeit "Beschäftigter im Bauhof" zu einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 2.800,00 EUR und die Anwendbarkeit der Vorschriften des TVöD-VKA mit dem Besonderen Teil Verwaltung. Es handelt sich um die erste Tätigkeit des Klägers auf dem ersten Arbeitsmarkt.
In der Zeit zwischen dem 02.01.2023 und dem 14.04.2023 war der Kläger in verschiedenen Kolonnen des Bauhofs tätig (vom 23.03.2023 bis zum 02.04.2023 war der Kläger für einen Einsatz beim Technischen Hilfswerk, für das er seit Jahren ehrenamtlich tätig ist, freigestellt). Hierüber wurden von den jeweiligen Kolonnenführern Vermerke angefertigt (Anlage 1 zum SS v. 27.09.2023). Diese Vermerke wurden vom Zeugen M mit Email vom 19.06.2023 an das Haupt- und Personalamt/Leitung Personalabteilung der Beklagten weitergeleitet. In diesen Vermerken heißt es wörtlich wie folgt:
[Vorgesetzter M]
Einarbeitungsphase Bauhof vom 02.01.2023 - 24.02.2023:
"Herr L wurde auf dem städt. Bauhof am 02.01.2023 im Bereich der Spielplatzunterhaltung eingestellt. Hier ist er Herrn B zugeordnet. Seine Aufgaben in der Spielplatzunterhaltung beinhaltet die Pflege der städt. Spielplätze und Kitas und alles, was dazu gehört wie z.B. Rasenmähen, Strauchschnitt, Laubbeseitigung usw. Die Aufgaben, die Herrn L übertragen werden, werden nicht ordnungsgemäß erledigt. Meist befasst er sich nach kürzester Zeit mit anderen Aufgaben. Auch nach mehrmaligen Hinweisen, was seine Aufgabe ist, führt er sie nicht aus. Herr L lässt sich ungern etwas sagen oder weiß meist alles schon, sodass eine Erklärung nic...