BAG zum Zugang von Kündigungserklärungen
Das BAG hat eine äußerst dezidierte Entscheidung zum zeitlichen Zugang von Willenserklärungen bei Einwurf in den Briefkasten des Empfängers getroffen. Nach dem Urteil des BAG kommt es auf die allgemeine Verkehrsanschauung unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten am konkreten Zugangsort an.
Verfristung der Kündigungsschutzklage?
Im vom BAG entschiedenen Fall ging es um die Frage, wann ein Schreiben über die fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zugegangen ist. Vom konkreten Zugangszeitpunkt hing es ab, ob die vom Kläger gegen die Kündigung eingereichten Kündigungsschutzklage noch innerhalb der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG beim Arbeitsgericht eingereicht oder ob die Klage verfristet war.
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Arbeitnehmer will Kündigung erst am Tag nach dem Einwurf erhalten haben
Der deutsche, in Baden ansässige Arbeitgeber hatte die fristlose Kündigung an einem Freitag, dem 27.1.2017 um 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten seines Arbeitnehmers einwerfen lassen. Der Arbeitnehmer wohnte in Frankreich im Departement Bas-Rhin nahe der deutschen Grenze. Dieser hatte mit Eingang bei Gericht am 20.2.2017 (Montag) gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage eingereicht. Er behauptete, er habe die Kündigung erst am Samstag, dem 28.1.2017, erhalten. In diesem Fall wäre die Kündigungsschutzklage noch innerhalb der Dreiwochenfrist rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangen, bei einem Zugang bereits am 27.1.2017 wäre die Kündigungsschutzklage verfristet und damit unzulässig gewesen.
Leerung von Hausbriefkästen bis 17:00 Uhr?
Sowohl das ArbG als auch in der Berufungsinstanz das LAG haben die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Kündigungserklärung sei dem Kläger bereits am 27.1.2017 zugegangen, die dreiwöchige Klagefrist sei damit nicht eingehalten. Begründet hatte das LAG die Verfristung unter anderem damit, dass nach den gewöhnlichen Verhältnissen und den Gepflogenheiten des Verkehrs mit einer Entleerung des Hausbriefkastens noch bis 17:00 Uhr gerechnet werden könne. Dies folge daraus, dass berufstätige Menschen ihren Hausbriefkasten regelmäßig nach Rückkehr von der Arbeit leeren würden.
Zugang beurteilt sich nach der Verkehrsüblichkeit
Diese Betrachtungsweise der Vorinstanzen teilte das BAG nicht. Das BAG stellte zunächst grundsätzlich klar, dass eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden dem Empfänger zugeht, sobald sie gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen (BGH, Urteil v. 14.2.2019, IX ZR 181/17).
Generalisierende Betrachtungsweise geboten
Die Frage der Möglichkeit zur Kenntnisnahme entscheidet sich nach dem Urteil des BAG nach den gewöhnlichen Verhältnissen und den Gepflogenheiten des Verkehrs. Im Ergebnis sei hiernach die Frage entscheidend, wann nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme aus dem Briefkasten zu rechnen ist. Dabei sei nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen, vielmehr sei im Interesse der Rechtssicherheit eine generalisierende Betrachtungsweise geboten.
Postzustellungszeiten als wesentlicher Anhaltspunkt
Sowohl das BAG als auch der BGH hatten bisher die Ansicht vertreten, dass bei Hausbriefkästen im allgemeinen mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellungszeiten zu rechnen sei, die von Ort zu Ort allerdings stark variieren könnten (BAG, Urteil v. 22.3. 2012, 2 AZR 224/11). Das BAG rügte, das LAG habe zu Unrecht die örtlichen Zeiten der Postzustellung im konkreten Fall unbeachtet gelassen. Die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten seien entgegen der Auffassung des LAG dazu geeignet, die Verkehrsauffassung über die übliche Leerung des Hausbriefkastens zu beeinflussen. Dabei seien auch regionale Besonderheiten zu berücksichtigen.
Fehlerhafte Anknüpfungspunkte der Vorinstanzen
Nach Auffassung des BAG lassen sich aus den üblichen Arbeitszeiten der Bevölkerung - anders als vom LAG angenommen - keine Rückschlüsse auf eine Verkehrsanschauung betreffend die Gepflogenheiten zur Leerung von Hausbriefkästen ziehen. Das LAG habe dabei eine ganze Reihe von Aspekten nicht beachtet:
- Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung sei kernerwerbstätig, viele arbeiteten in Teilzeit oder in flexiblen Arbeitszeitmodellen.
- Der Kläger wohne nicht in Deutschland sondern im benachbarten Frankreich. Die Verkehrsanschauung am Zustellungsort habe das LAG nicht ansatzweise berücksichtigt. Entscheidend sei daher die Verkehrsanschauung zur Leerung von Hausbriefkästen in der französischen Republik im Departement Bas-Rhin.
- Außerdem blende das LAG aus, dass nicht alle Erwerbstätigen in Singlehaushalten lebten und daher die Leerung der Hausbriefkästen auch durch andere Mitbewohner vor Ende der Arbeitszeit erfolgen könne.
- Schließlich sei dem Kläger fristlos gekündigt worden, weshalb er nicht mehr zur Gruppe der Erwerbstätigen gehöre.
Briefkastenleerung um 17:00 Uhr ist unrealistisch
Nach all diesen Erwägungen ist nach Auffassung des BAG die Festlegung des Zeitpunktes der üblichen Leerung eines Hausbriefkastens durch das LAG auf 17:00 Uhr völlig willkürlich und lässt sich nicht näher begründen
Zurückverweisung ans LAG mit detaillierten Hinweisen
Da der Fall noch nicht entscheidungsreif war, konnte das BAG keine eigene Entscheidung treffen. Es verwies die Sache daher zur erneuten Verhandlung an das LAG zurück, sah sich hierbei aber zu diversen Hinweisen veranlasst. So habe das LAG Feststellungen dazu zu treffen, welche Verkehrsanschauung zum Zeitpunkt der Leerung von Hausbriefkästen im maßgeblichen räumlichen Gebiet Departement Bas-Rhin herrschen. Das LAG habe dabei zu beachten, dass die Beklagte substantiiert Tatsachen vorzutragen habe, dass das Kündigungsschreiben noch am 27.1.2017 zugegangen sei. Für diesen für sie günstigen Umstand trage die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast. Sollte das LAG zu dem Ergebnis kommen, dass die Klage nicht verspätet ist, so habe es über die Wirksamkeit der Kündigung zu entscheiden.
(BAG, Urteil v. 22.8.2019, 2 AZR 111/19).
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