Rz. 273

Ein schlechterdings erziehungsungeeigneter Elternteil kann die elterliche Sorge nicht er­halten.[1042] Etwaige Defizite in der Erziehungseignung können jedoch durch sonstige, dem ­Kindeswohl dienliche Kriterien, wie etwa starke persönliche Bindungen, kompensiert werden. Es ­entspricht verfassungsrechtlichen Grundsätzen, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf bestmögliche Förderung ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit haben, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht.[1043] Als Grundrechtsträger mit eigener Menschenwürde verfügen sie über einen Anspruch auf eine ihrer Persönlichkeit gerecht werdende Erziehung,[1044] wobei dieser Anspruch sich sowohl gegen die Eltern[1045] als auch die Gesellschaft insgesamt richtet.[1046] Der Staat ist gehalten, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu schaffen.[1047] Anerkanntes Erziehungsziel ist es daher, dieses Recht des Kindes zu verwirklichen.[1048] Durch § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB wird die Verpflichtung der Eltern unterstrichen, die Kinder zu einem selbstständigen Handeln zu erziehen und sie ihrem Entwicklungsstand entsprechend an den Fragen der elterlichen Sorge zu beteiligen (siehe auch § 1 SGB VIII).

 

Rz. 274

Im Rahmen der zu treffenden Entscheidung obliegt es daher dem Familiengericht, eine Prognose darüber zu treffen, welchem Elternteil es aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Erziehungskompetenz gelingen wird, dem Kind bei der Erreichung dieses Erziehungsziels die notwendige Unterstützung zu geben.[1049] Dazu gehört auch die wichtige Frage nach der Bindungstoleranz (siehe dazu Rdn 298 ff.). Voraussetzung ist, dass einerseits das Gericht detailliert die derzeitigen und künftigen Lebensverhältnisse beider Eltern prüft, aber auch die Eltern bereit sind, zur Erreichung des Erziehungszieles eigene Belange zurückzustellen. Dass ein Elternteil Leistungen der Jugendhilfe in Anspruch nimmt, um von ihm erkannte Defizite zu beseitigen, spricht regelmäßig nicht gegen, sondern für seine Erziehungseignung.[1050]

 

Rz. 275

Es ist nicht Aufgabe des Familiengerichts, darüber zu entscheiden, welchem der unterschiedlichen Erziehungsstile der Elternteile der Vorzug zu geben ist. Die Prüfung erstreckt sich vielmehr darauf, durch welche Erziehung das anzustrebende Erziehungsziel nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben erreicht werden kann und inwieweit möglicherweise ein Elternteil unzulässige entwürdigende Erziehungsmaßnahmen (§ 1631 Abs. 2 BGB, siehe dazu Rdn 85 ff.) anwendet. In diesem Rahmen obliegt den Eltern das eigenverantwortliche Ermessen zur Erziehungsausübung.[1051] Abweichungen von diesem Rahmen können im Zusammenhang mit verschiedenen Lebensbereichen auftreten und Fragen zur Erziehungseignung eines Elternteils aufwerfen.

[1042] OLG Hamm, Beschl. v. 14.3.2011 – 8 UF 181/10, juris.
[1043] BVerfG FamRZ 1968, 578; Schütz, FamRZ 1986, 947.
[1044] BVerfG FamRZ 1989, 31; OLG Hamburg FamRZ 1992, 444.
[1045] Und zwar verfassungsunmittelbar aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, siehe BVerfG FamRZ 2008, 845; Anm. Völker, FamRB 2008, 174; Anm. Clausius, jurisPR-FamR 14/2008 Anm. 1; Zempel, AnwZert FamRZ 9/2008 Anm. 3; grundrechtsdogmatisch etwas andere Herleitung in BVerfG FamRZ 2013, 521; dazu Britz, Das Grundrecht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung – jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2014, 1069; allerdings jeweils ohne ausdrückliche Auseinandersetzung mit der erstgenannten BVerfG-Entscheidung; kritisch zu beiden grundrechtlichen Herleitungen Jestaedt, Kindesrecht zwischen Elternverantwortung und Staatsverantwortung – Herausforderungen des Eltern-Kind-Verhältnisses aus verfassungsrechtlicher Perspektive, Brühler Schriften zum Familienrecht, 21. Deutscher Familiengerichtstag, S. 65 ff.
[1046] BVerfG FamRZ 2013, 521.
[1047] BVerfGE 88, 203, 260 = FamRZ 1993, 899; Wendt/Rixecker/Völker, Verfassung des Saarlandes, Art. 24a Rn 3.
[1048] BVerfG FamRZ 1989, 31.
[1049] OLG Hamm FamRZ 2000, 501.
[1050] Vgl. OLG Saarbrücken, Beschl. v. 24.3.2011 – 6 UF 24/11 (n.v.).
[1051] OLG Hamm FamRZ 1989, 654.

(a) Religiöse Kindererziehung

 

Rz. 276

Die Religionszugehörigkeit eines Elternteils kann geeignet sein, seine Erziehungseignung zu beeinträchtigen. Hier kommen in erster Linie die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas[1052] oder der Scientology-Organisation in Betracht.[1053] Eine Religions- oder Sektenzugehörigkeit als solche kann allerdings die Erziehungsfähigkeit dem Grunde nach nicht in Frage stellen. Denn durch das staatliche Wächteramt und die hieraus folgenden Eingriffsbefugnisse darf die verfassungsrechtlich geschützte Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG nicht unterlaufen werden. Andererseits beruht die religiöse Erziehung auf dem verfassungsrechtlich garantierten Erziehungsrecht und muss sich daher an den darin vorgesehenen Schranken messen lassen. Wenn auch bei toleranter, liberaler Sichtweise die Ausübung der Religionsfreiheit der Eltern dem Kindeswohl in seiner dargestellten Ausprägung nachteilig ...

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