Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 39
Die schon durch den Amsterdamer Vertrag eingeräumten Befugnisse hat die EU seither umfassend genutzt und etliche Verordnungen erlassen.
I. Der Begriff "EU-Verordnung"
Rz. 40
Die Bezeichnung "EU-Verordnungen" bedarf vorab der Erklärung, denn die Bezeichnung ist irreführend. Es handelt sich bei den EU-Verordnungen trotz der Wortwahl ("Verordnungen") um Regelungen mit Gesetzesqualität, die in den Mitgliedstaaten der EU automatisch gelten und den jeweiligen nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten vorgehen. Dies gilt auch für die neu hinzugekommenen Mitgliedsstaaten; allerdings nicht für Dänemark, denn Dänemark beteiligt sich generell nicht an der justiziellen Zusammenarbeit in Europa (zur Sonderrolle Dänemarks siehe oben Rn 36; zu Großbritannien und Irland siehe oben Rn 37); die Sonderrollen dieser Staaten werden vielfach kritisiert (unsolidarisch und problematisch). Die von der Union in der Form von Verordnungen erlassenen Rechtsvorschriften binden die Mitgliedstaaten direkt, die Verordnungen gelten deshalb in den Mitgliedstaaten jeweils unmittelbar, ohne dass es einer innerstaatlichen Umsetzung bedarf (Art. 288 Unterabsatz 2 AEUV).
II. Verordnungen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
Rz. 41
Den Anfang machten Verordnungen über die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, nämlich
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Die EuGVO (genannt häufig auch Brüssel – I VO inzwischen bereits neugefasst durch die noch weitergehende Brüssel I a VO) |
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die EuEheVO (genannt häufig auch Brüssel – II a – VO). |
Mit diesen – bahnbrechenden – Verordnungen wurde die Internationale Zuständigkeit der mitgliedsstaatlichen Gerichte EU-weit einheitlich geregelt, sodass seither in den von den Verordnungen erfassten Bereichen innerhalb der EU Einheitsrecht gilt. Mit der EU-einheitlichen Regelung zur Internationalen Zuständigkeit konnte damit die generelle Anerkennung von Entscheidungen innerhalb der EU Mitgliedstaaten statuiert werden. So sehen Art. 33 der EuGVO (Brüssel I VO)/Art. 36 der Brüssel I a VO) und Art. 21 der EuEheVO (Brüssel II a VO) die ("automatische") Anerkennung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten vor, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.
Rz. 42
Damit ist auch die Vollstreckbarkeit innerhalb der EU Mitgliedstaaten ("unproblematisch") gewährleistet; es bedarf also auch für die Vollstreckungsfähigkeit von EU-Entscheidungen in diesem Bereich keines vorgeschalteten eigenständigen Verfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem die Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates vollstreckt werden soll. Im Rahmen der Brüssel II a VO genügt eine inländische Vollstreckbarerklärung; die (neue) Brüssel I a VO sieht sogar von diesem Erfordernis ab (vgl. Art 39 Brüssel I a VO).
Rz. 43
Hervorzuheben ist ferner, dass die EU Verordnungen grundsätzlich nicht voraussetzen, dass die Beteiligten die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates haben. Vielmehr reicht es in den meisten Fällen aus, dass die Parteien ihren Wohnsitz oder Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben, auf die Staatsangehörigkeit kommt es grundsätzlich nicht an.
Rz. 44
Bis zum Jahr 2008 bezogen sich die Regelungen der EU nur auf den Bereich der Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, es lagen dagegen keine EU-Regelungen zur Frage des anwendbaren Rechts vor.
Aus deutscher Sicht wurden also nur die nationalen deutschen Verfahrensvorschriften über die Internationale Zuständigkeit verdrängt, wobei die Brüssel I VO (bzw. die neue Brüssel I a VO) in ihrem Geltungsbereich die Regelungen der Internationalen Zuständigkeit der ZPO verdrängt, die Brüssel II a VO die entsprechenden Regelungen des FamFG (bzw. des damals noch geltenden FGG) zur Internationalen Zuständigkeit.
Rz. 45
Es kam damit regelmäßig zu einem Nebeneinander von EU Recht und nationalem Recht; nur für die Frage der Internationalen Zuständigkeit der (deutschen) Gerichte waren die EU Regelungen zu berücksichtigen (die den nationalen Zuständigkeitsregelungen gegenüber Vorrang genießen) für die Frage des anwendbaren Rechts dagegen konnte mangels vorrangigen EU Rechts auf die nationalen Vorschriften (und damit in Deutschland auf das EGBGB) zurückgegriffen werden.
Rz. 46
Beispiel:
Die Internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist z.B. nach Art. 2 Abs. 1 der Brüssel I Verordnung (jetzt Art 4 der Brüssel I a Verordnung) begründet bei einer Schadensersatzklage aus unerlaubter Handlung, wenn der Beklagte in Deutschland seinen Wohnsitz hat (auf die Staatsangehörigkeit kommt es nicht an). Regelungen zur sachlichen und örtlichen Zuständigkeit enthält die Brüssel I Verordnung nicht (ebenso nicht die Brüssel I a Verordnung), insofern kann auf die innerstaatlichen Regelungen zurückgegriffen werden (in Deutschland also ZPO und GVG, je nach Streitwert ist also das AG/LG zuständig).
Das deutsche Gericht muss nun überlegen, welc...