Julian Backes, Sven Eichler
Rz. 1844
Einem Verkehrsteilnehmer wurde vorgeworfen, um 20:44 Uhr die mittels VZ 274–53 beschilderte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um mehr als 21 km/h überschritten zu haben, mit der Folge eines Bußgeldbescheids und eines drohenden Eintrags von 1 Punkt im FAER. Der Verkehrsteilnehmer legte indes dar, dass die Begrenzung seiner Auffassung nach keine Wirkung mehr entfaltet habe, da das Limit mit einer Gefahr verknüpft war und diese zum Tatzeitpunkt nicht mehr bestand.
Bei Inaugenscheinnahme des zugehörigen Messprotokoll ergeben sich keine Hinweise darauf, dass außer dem VZ 274–53 weitere Verkehrszeichen montiert sind.
Abbildung 6: Auszug aus dem behördlichen Messprotokoll
Tatsächlich wurde im Rahmen eines Ortstermins jedoch folgende Beschilderungskombination festgestellt:
Abbildung 7: Vor Ort feststellbare Kombination aus VZ 136–10, Zusatzzeichen "Schule", VZ 274–53 und dem Zusatzzeichen "auf 250 m". Quelle: eigene Darstellung VUT
Die Eintragungen zur Verkehrsbeschilderung im Messprotokoll sind somit erkennbar unvollständig.
Rz. 1845
Zunächst ist mit Blick auf die allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO), dort zu den §§ 39 bis 43, zu attestieren, dass die maximale Anzahl an Verkehrszeichen für den fließenden Verkehr überstiegen ist.
Zitat
"Am gleichen Pfosten oder sonst unmittelbar über oder nebeneinander dürfen nicht mehr als drei Verkehrszeichen angebracht werden; bei Verkehrszeichen für den ruhenden Verkehr kann bei besonderem Bedarf abgewichen werden."
Die Kombination von vier (statt drei) Verkehrszeichen am selben Rohrpfosten bedarf insofern der juristischen Würdigung.
Rz. 1846
Im konkreten Fall wendet sich der Verkehrsteilnehmer indes nicht gegen die Wahrnehmung und Verarbeitung aller Verkehrszeichen, sondern gegen die Interpretierbarkeit der Begrenzung.
Wie in einem späteren Beispiel unter Rdn 1863 aufgezeigt, erfährt die Kombination aus Gefahrenzeichen und Begrenzung eine Aufhebung, wenn die Gefahr erkennbar nicht mehr besteht.
Bei einem Gefahrenzeichen wie "Achtung Kinder" ist der Bereich dabei weder räumlich noch zeitlich klar definiert und das Ende der Gefahr insofern schwieriger festzulegen als etwa bei einer Ausfahrt oder Kurve.
Vorliegend zielt die Gefahr durch die Konkretisierung zumindest auf "Schulbetrieb" ab – während die behördliche Messung gemäß Messprotokoll auf das Vorhandensein eines etwa 130 m hinter der Beschilderung markierten Fußgängerüberweg abzielt und ein Schulweg oder -betrieb nicht erwähnt wird.
In Summe sind somit zwei Fragen von elementarer Bedeutung:
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Muss unter Berücksichtigung eines vor- und nachgelagerten Zeitraums um 20:44 Uhr von der ganz konkret beschriebenen Gefahr "Schulbetrieb" ausgegangen werden? |
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Wusste das Messpersonal – dies insbesondere im Hinblick darauf, dass man den übrigen Verkehrszeichen keine Bedeutung beigemessen hat – um die Interpretierbarkeit der Beschilderung oder unterlag es der Annahme, die 30 km/h würden "immer" gelten? |
Das erkennende Amtsgericht hat in der Hauptverhandlung entschieden, dass aufgrund dieser Umstände lediglich die Verhängung eines Verwarngeldes (also kein Eintrag im FAER) geboten ist.
Rz. 1847
Ein häufiges Beispiel für eine widersprüchliche Verkehrsbeschilderung ist der Gebrauch des VZ 306 (Vorfahrtstraße) innerhalb von 30er-Zonen nach VZ 274.1, obwohl dies gemäß StVO unzulässig ist.
Rz. 1848
So heißt es in § 39 StVO unter (1a):
Zitat
"Innerhalb geschlossener Ortschaften ist abseits der Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) mit der Anordnung von Tempo 30-Zonen (Zeichen 274.1) zu rechnen." (eigene Hervorhebung)
Rz. 1849
Und in § 45 StVO heißt es unter 1c:
Zitat
"Die Straßenverkehrsbehörden ordnen ferner innerhalb geschlossener Ortschaften, insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf, Tempo 30-Zonen im Einvernehmen mit der Gemeinde an. Die Zonen-Anordnung darf sich weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) noch auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) erstrecken." (eigene Hervorhebung)
Rz. 1850
Im folgenden Beispiel ist jedoch im Vorfeld der Geschwindigkeitsmessung genau solch ein VZ 306 montiert; zusammen mit den weiteren Wegweisern entsteht so für den Verkehrsteilnehmer der Eindruck, sich auf einer Hauptverkehrsachse mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h zu befinden.
Abbildung 8: Anfahrtsansicht; der weiße Kreis markiert das VZ 306 (Vorfahrtstraße), der Pfeil verdeutlicht den Standort des Messfahrzeuges. Quelle: VUT Messstellendatenbank
Tatsächlich handelt es sich hier jedoch um eine fehlerhafte Beschilderung innerhalb einer 30er-Zone, die erst am nachfolgenden Mündungsbereich endet.
Abbildung 9: im schwarzen Rahmen wurde durch eine Reduzierung der Reflexion auf der Heckscheibe das Messgerät hervorgehoben. Trotz anderslautender Beschilderung wurde der Messung eine zulässige Geschwindigkeit von 30 km/h zugrunde gelegt; das Ende der 30er-Zone wird erst im Hintergrund (vgl. Ausschnittsvergrößer...