Julian Backes, Sven Eichler
Rz. 716
Ein weiteres Fallbeispiel für die Zweckentfremdung eines von der PTB zugelassenen Geschwindigkeitsmessgerätes im Rahmen einer Abstandsmessung von Lkw ergibt sich aus dem Einsatz des Einseitensensor ES3.0.
Rz. 717
Bestimmungsgemäß ermittelt das Messsystem ES3.0 auf einer Basis von 0,5 m mit einer Genauigkeit von 3 km/h einen Geschwindigkeitswert, dessen Entstehung durch die Anordnung der optischen Sensoren mit einer Genauigkeit von 1 m einer bestimmten Entfernung zugeordnet werden kann. Diese beiden Messwerte werden, ebenso wie eine Uhrzeit, in die Beweisfotos eingeblendet.
Rz. 718
Hierauf basierend entwickelten findige Messbeamte ein selbst erdachtes Abstandsmessverfahren, um bei Fahrzeugen über 3,5 t ab Geschwindigkeiten von mehr als 50 km/h den dann erforderlichen Mindestabstand von 50 m zu kontrollieren.
Rz. 719
Sobald sich zwei Lkw in augenscheinlich geringem Abstand zueinander dem Sensor näherten, lösten die Messbeamten manuell (über die so genannte Grenzwerttaste) sowohl beim vorausfahrenden als auch dem nachfolgenden Fahrzeug ein Beweisfoto aus. Unter Zugrundelegung des zeitlichen Abstandes zwischen den beiden Beweisfotos und der ermittelten Geschwindigkeit des nachfolgenden Fahrzeuges bestimmten die Beamten den vorgeworfenen Abstand in Metern wie folgt: ((zeitlicher Abstand × Geschwindigkeit des Betroffenen/3,6) – geschätzte Länge des vorausfahrenden Fahrzeuges).
Rz. 720
Dem zum Tatzeitpunkt gültigen 3. Nachtrag zur Zulassung vom 25.11.2009 ist in Punkt 5.2 zu entnehmen, dass lediglich die Geschwindigkeits- und seitliche Abstandsmessung geeichte Messwerte mit entsprechenden Fehlergrenzen darstellen. Die Uhrzeit erscheint hingegen nicht als geeichte Größe und Zeitfehler zu Ungunsten des nachfolgenden Fahrzeuges sind nicht auszuschließen.
Rz. 721
Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist somit bezüglich der Geschwindigkeit korrekt, bezüglich des errechneten Abstandes ungenau, unter Umständen auch zu Ungunsten des Betroffenen falsch, und aus datenschutzrechtlicher Sicht als eine Katastrophe zu bewerten, da auch regelkonform agierende Fahrzeuge (vorausfahrende Lkw) grundlos dokumentiert werden.
Rz. 722
Auch bleiben bei diesem Vorgehen, bei dem bedingt durch die Verkehrsfehlertoleranz jeweils eine Differenzgeschwindigkeit von 6 km/h unterstellt werden kann und das sich anstatt der von der Rechtsprechung geforderten "nicht nur ganz vorübergehenden Wegstrecke" von 250 – 300 m lediglich auf eine Messbasis von 0,5 m (entspricht 0,2 % der Mindestwegstrecke) stützt, weitere elementare Fragen unbeantwortet. Z.B.:
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hat der vorausfahrende Lkw vielleicht vor der Kontrollstelle abgebremst und so für eine Abstandsverringerung gesorgt? |
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wollte der nachfolgende Lkw zur Einleitung eines Überholvorganges zum vorausfahrenden Lkw aufschließen, um die Überholstrecke zu verkürzen? |
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hat der vorausfahrende Lkw zuvor überholt, den Fahrstreifen mit sehr geringem Abstand zum dann nachfolgenden Lkw gewechselt und dann den Abstand mit mäßiger Differenzgeschwindigkeit vergrößert? |
Hinweis
Damit der Messbeamte bei dieser Art der Überwachung am Messgerät die Auslösegeschwindigkeit manuell verändern muss, kann er sich maximal 30 m (Kabellänge zur Kamera) vom Messgerät weg befinden, so dass seine Position i.d.R. keine Beobachtung über eine längere Wegstrecke zulässt, schon gar nicht aus der Betrachterposition der Kamera auf Fahrbahnniveau.
Rz. 723
Dieses eindeutig nicht standardisierte Messverfahren ist somit weder geeignet die Konstanz des Fahrverhaltens zu belegen noch aufzuzeigen, inwiefern die Kausalität für den Abstandsverstoß beim nachfolgenden Fahrzeug liegt. Als besonders bemerkenswert muss daher die Beobachtungsgabe des Messbeamten hervorgehoben werden, der von seiner Position auf Fahrbahnniveau bis in eine Entfernung von mehreren hundert Metern das Geschwindigkeits- und Abstandsverhalten der Lkw so genau einschätzen konnte, dass er damit das für diesen Verwendungszwecke technische Defizit der Messanlage auszugleichen vermochte.