Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 39
Wichtigster unbezifferter Antrag ist der Schmerzensgeldantrag; seine Zulässigkeit beruht auf Gewohnheitsrecht. Der Kläger beantragt "ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld". Entscheidet nun das Gericht nach seinem Ermessen – wie ihm vom Kläger eingeräumt –, so stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang er als beschwert angesehen werden kann, wenn die Entscheidung des Gerichts von seinen Vorstellungen abweicht. Eine hinreichende Beschwer ist aber Voraussetzung dafür, dass – auch – der Kläger gegen das stattgebende Schmerzensgeldurteil Berufung einlegen kann. Deshalb hat er seine Vorstellungen zur Höhe des Schmerzensgeldes darzulegen.
Wenn nun der Streitwert entsprechend diesen Vorstellungen festgesetzt wird und auf dieser Basis auch die Kostenentscheidung ergeht, fragt sich allerdings, wozu ein Kläger seinen Antrag überhaupt unbeziffert lässt und ihn nicht gleich entsprechend seinen Vorstellungen zur Höhe des Schmerzensgeldes fasst.
Rz. 40
Dazu hat der BGH in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1996 Stellung genommen und sieht in der Darstellung der Größenvorstellungen des Klägers unter anderem deshalb einen Gewinn, weil die Auffassung der Partei eine Hilfe bei der Ermittlung des angemessenen Betrages sein könne.
BGH NJW 1996, 2425, 2427:
Zitat
Der angegebenen Größenvorstellung kommt ferner für die Festsetzung des Streitwertes Bedeutung zu. Da das Begehren des Kl. nicht unterschritten werden kann, ohne dass er beschwert wäre, erreicht der Streitwert jedenfalls die angegebene Höhe. Nach oben ist das Gericht hingegen streitwertmäßig nicht an die Angaben des Kl. gebunden, da sich der Streitwert am angemessenen Schmerzensgeld auszurichten hat. [...]
Das Bedürfnis nach Rechtsklarheit erfordert eine Bindung des Gerichts an die vom Kl. angegebene Größenordnung nicht. Da der Bekl. seinerseits durch Antrag auf Streitwertfestsetzung jederzeit die dem Gericht als angemessen erscheinende Bewertung des Schmerzensgeldes in Erfahrung bringen kann, ist seinem Interesse, im Rechtsstreit Klarheit darüber zu haben, welchen Verurteilungsrisiken er ausgesetzt ist, im erforderlichen Maße genüge getan; an der Streitwertfestsetzung des Gerichts kann er seine prozessualen Dispositionen (Verteidigung gegen die Klage oder – gegebenenfalls teilweises – Anerkenntnis) ausrichten.
Rz. 41
Die vom BGH zunächst noch offengelassene Frage, ob und in welchem Umfang das Gericht die Vorstellungen des Klägers überschreiten darf – vielfach wird eine Begrenzung auf 20 % vertreten –, hat der BGH dahingehend entschieden, dass es einer solchen Begrenzung nicht bedarf und gebilligt, dass einem Kläger, der eine Größenordnung von 25.000 EUR angegeben hatte, 50.000 EUR Schmerzensgeld zugesprochen wurden. Der den Umfang des den prozessualen Anspruch bildende Streitgegenstand ist mithin nicht durch die Angabe einer Größenordnung begrenzt, es sei denn, es handelt sich um eine vom Kläger angegebene Obergrenze.
Damit ist ein Kläger aber nicht der Verpflichtung enthoben, Angaben dazu zu machen, welchen Betrag er mindestens begehrt.
Rz. 42
Wird ein bestimmter, bezifferter Betrag eingeklagt und dem Kläger dieser Betrag zugesprochen, kann er nicht mit der Begründung Rechtsmittel einlegen, das Gericht habe keinen Gebrauch von seinem Ermessen gemacht, den eingeklagten Betrag zu überschreiten. Es fehlt an der erforderlichen Beschwer.
(Ein Kläger kann aber, selbst wenn ihm der geltend gemachte Betrag zuerkannt worden ist, mit der Berufung ein höheres Schmerzensgeld verfolgen, wenn sich seine Berufung nicht allein auf die Verfolgung dieses Schmerzensgeldes erstreckt, sondern die erstinstanzliche Entscheidung auch wegen seines Anspruchs zu weiterem Sachschaden angefochten wird. Denn dann ist die Zulässigkeit der Berufung für diesen Punkt erreicht, und da eine Partei – wenn denn die Zulässigkeit der Berufung gegeben ist – nicht gehindert ist, über ihren eigenen erstinstanzlichen Antrag hinauszugehen, kann sie auch ihren Schmerzensgeldantrag erweitern, vgl. auch § 6 Rdn 36.
Rz. 43
Von der überwiegend vertretenen Auffassung, das Gericht dürfe den Streitwert niedriger festsetzen, wenn es (ohne Beweiserhebung) einen geringeren Betrag zuspricht, als er den Vorstellungen des Klägers entspricht, ist der BGH abgerückt, ohne sich mit der abweichenden Rechtsauffassung auseinanderzusetzen.
Rz. 44
Damit dem Kläger, wenn dessen Vorstellungen zum Schmerzensgeld den tatsächlich zugesprochenen Betrag nur geringfügig (bis zu 20 %) überschreiten, nicht ein Teil des zuerkannten Schmerzensgeldes durch die Kostenentscheidung sogleich wieder genommen wird, kann das Gericht ihn gemäß § 92 Abs. 2 ZPO trotz des teilweisen Unterliegens von der Kostenlast freistellen.