Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 27
Der Gegner ist der Überrumpelung mit neuem Vorbringen nicht hilflos ausgeliefert, so dass das bewusste Zurückhalten von Vorbringen unter diesem Gesichtspunkt kein erfolgversprechendes taktisches Mittel sein kann.
Der Anwalt des Gegners kann zum einen eine kurze Unterbrechung der Verhandlung beantragen, um sich mit seinem Mandanten zu beraten; er kann danach direkt auf das neue Vorbringen erwidern und vermeidet eine ansonsten vielleicht notwendige Vertagung.
Denn wenn er zu dem neuen Vorbringen keine Informationen hat, kann er sich nicht auf ein "vorsorgliches" Bestreiten oder auf ein Bestreiten mit "Nichtwissen" zurückziehen. Ein Bestreiten mit Nichtwissen ist nur in den von § 138 Abs. 4 ZPO vorgegebenen Grenzen zulässig, vgl. § 2 Rdn 34 ff. Fehlen dem Anwalt die notwendigen Informationen, muss er sie sich beschaffen.
Der Gegner des verspätet Vortragenden kann auch nicht die Einlassung verweigern und dadurch eine Vertagung erzwingen. Das gilt zumindest für den Fall, dass die Anträge bereits gestellt sind und der Gegner erst danach mündlich ergänzend vorträgt. Die Rspr. verlangt für diesen Fall von ihm, Schriftsatznachlass nach § 283 ZPO zu beantragen, um dann innerhalb der ihm gesetzten Frist auf das verspätete Vorbringen zu erwidern.
Rz. 28
BGH NJW 1997, 1309, 1311:
Zitat
Der Gegner der verspätet vortragenden Partei hat nicht das Recht, durch Verweigerung jeder – selbst einer nachgereichten – Einlassung das Gericht zu zwingen, von dem verspäteten Vorbringen keine Kenntnis zu nehmen und dieses gem. § 296 ZPO als verspätet zurückzuweisen. Das mit der Einräumung der Erklärungsfrist verbundene Ansetzen eines anschließenden Verkündungstermins stellt für sich genommen keine Verzögerung im Sinne des § 296 ZPO dar.
Aber OLG Köln NJW-RR 1998, 1076:
Zitat
Das rechtliche Gehör einer Partei ist verletzt, wenn das Gericht ihrem Vertagungsantrag nicht stattgibt, obwohl der Gegner erstmals in der mündlichen Verhandlung auf Befragen des Gerichts erklärt, welche Gegenrechte er gegenüber einer der Höhe nach unstreitigen Werklohnforderung geltend macht.
(Diese Entscheidung erscheint bedenklich; der Kläger hätte sich wohl auf einen Schriftsatznachlass verweisen lassen müssen, vgl. Rdn 27.)
Rz. 29
Wenn der neue Vortrag in der mündlichen Verhandlung keine Entgegnung auf Vorbringen der Gegenseite ist und das Gericht nicht von daher schon wissen kann, dass er bestritten ist, kann es erst nach Eingang des nachgelassenen Schriftsatzes beurteilen, ob das neue Vorbringen bestritten wird und die Anwendung der Verspätungsvorschriften in Betracht kommt, vgl. § 2 Rdn 54 ff.
Das Gericht wird also z.B. nach dem neuen Sachvortrag Termin zur Verkündung einer Entscheidung in vier Wochen anberaumen und dem Gegner auf dessen Antrag, ihm Schriftsatznachlass zu gewähren, eine Erwiderungsfrist von zwei Wochen setzen. Wird nunmehr das neue Vorbringen bestritten und würde sich bei Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens allein deshalb die Notwendigkeit ergeben, Beweis zu erheben, stünde jetzt fest, dass die Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen würde.
Wenn die Voraussetzungen im Übrigen gegeben sind, könnte dann der verspätete Vortrag für die zu treffende Entscheidung unbeachtet bleiben.
Rz. 30
Etwas anderes gilt für den Fall, dass der Kläger kurz vor der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich Neues vorgetragen hat. Jetzt kann der Beklagte die Einlassung zu diesem neuen Vortrag verweigern. Der Kläger kann dann gestützt auf dieses neue Vorbringen kein Versäumnisurteil gegen den Beklagten erwirken, weil die formalen Voraussetzungen des § 335 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht erfüllt sind.
Neue Rechtsausführungen können in jedem Fall noch in oder kurz vor der mündlichen Verhandlung erfolgen. Der Anwalt mag sie aus taktischen Gründen sogar bewusst zurückhalten, damit sich der Gegner nicht rechtzeitig darauf einstellen kann; allerdings wird diesem, in entsprechender Anwendung des § 139 Abs. 2 ZPO, Schriftsatznachlass einzuräumen sein.