Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 33
Die mündliche Verhandlung ist auch der Ort, an dem das Gericht (spätestens) seiner Aufklärungs- und Hinweispflicht nach § 139 ZPO zu genügen hat. Das Gericht hat gemäß § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO darauf hinzuwirken, "dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen."
Die Aufklärungspflicht ist also eng verwandt mit der Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs; in ihrer Verletzung kann zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegen. Die Verpflichtung des Gerichts nach § 139 ZPO geht aber noch über die Gewährung rechtlichen Gehörs hinaus; den Richter trifft nämlich in gewissen Grenzen eine beratende Pflicht. Diese richterliche Pflicht sollten sich die Parteien zunutze machen und dem Gericht Hilfen bei der Formulierung ihrer Anträge abverlangen. Selbstverständlich macht es sich nicht gut, die Schriftsätze regelmäßig damit enden zu lassen, es werde um Hinweis gebeten, wenn dem Gericht der Sachvortrag nicht ausreichend erscheine. Es ist auch ärgerlich für eine Partei, die sich um einen sorgfältigen Sachvortrag bemüht, wenn sich der Gegner allzu sehr vom Gericht an die Hand nehmen lässt. Häufig kann eine Partei aber gar nicht erkennen, welchen Sachvortrag das Gericht für entscheidungserheblich und beweisbedürftig hält. Dann ist es sachgerecht, das Gericht zu befragen, um unnötigen Schreibaufwand und unnötige Ermittlungsarbeit zu ersparen. Das Gericht hat sich dazu zu erklären. Im Ergebnis dienen die gerichtlichen Hinweispflichten der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen und konkretisieren den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör.
Rz. 34
Da der Richter aber andererseits zu strikter Neutralität verpflichtet ist, liegt es auf der Hand, dass sich trefflich darüber streiten lässt, wann die Grenzen der Pflicht zur Beratung überschritten sind und der Richter den Eindruck der Parteilichkeit erweckt und deshalb wegen Befangenheit abgelehnt werden kann. Mittlerweile ist geklärt, dass ein Richter nicht verpflichtet ist, dass beispielsweise die Möglichkeit einer Partei besteht, sich mit dem Eintritt der Verjährung zu verteidigen.
BGH NJW 2004, 164:
Zitat
Zu Unrecht meint mithin das BeschwGer., der Amtsrichter habe sich mit seinem Hinweis auf die Wiedergabe der materiellen Rechtslage beschränkt. Seine prozessleitende Verfügung führte dem Bekl. vielmehr die Möglichkeit vor Augen, durch eine geschäftsähnliche Handlung die bestehende, für das Gericht verbindliche Rechtslage zum Nachteil des Kl. und zu seinen eigenen Gunsten zu verändern. Ein solcher Hinweis wirkt wie eine Aufforderung, die Einrede auch zu erheben. Für den Hinweis bietet § 139 ZPO keine Grundlage.
Ein solcher Hinweis auf die Verjährungseinrede begründet dementsprechend die Besorgnis der Befangenheit. Allerdings dann, wenn das Parteivorbringen in Bezug auf die bereits angesprochene Verjährungsfrage klärungsbedürftige Anhaltspunkte enthält, besteht gem. § 139 Abs. 2 ZPO eine Hinweispflicht bezüglich der Verjährungseinrede.
Rz. 35
Der Umfang der richterlichen Hinweispflicht ist über die Jahre immer weiter ausgeformt worden, wobei immer wieder die Frage zu erörtern war, wie weit die richterliche Hinweispflicht reicht, wenn beide Seiten (wie im Anwaltsprozess) anwaltlich vertreten sind. So hat der BGH eine Verpflichtung, die anwaltlich vertretene Partei auf die Unschlüssigkeit ihrer Klage hinzuweisen, zunächst verneint. Dem ist dann das OLG Köln für den Fall entgegengetreten, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Rechtslage falsch beurteile oder ersichtlich darauf vertraue, sein schriftsätzliches Vorbringen reiche aus. Die vom BGH vertretene gegenteilige Auffassung sei überholt. Mittlerweile vertritt auch der BGH die Auffassung, dass – auch in einem Anwaltsprozess – eine unmissverständliche Hinweispflicht des Gerichts gegenüber dem Kläger besteht, sofern es Bedenken gegen die Schlüssigkeit der Klageforderung hegt, um dem Kläger die Gelegenheit zum weiteren Vortrag zu geben.
Besonders praxisrelevant ist die Frage, ob die Stellungnahme seitens des Prozessgegners die Hinweispflicht des Gerichts entfallen lässt. Im Grundsatz ist diese Frage zu verneinen. Die Vorschrift des § 139 ZPO spricht ausdrücklich das Gericht an und erlegt ihm die Hinweis- und Aufklärungspflichten auf. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass die Partei Hinweise ihres Gegners, der seine eigenen Interessen verfolgt, stets mit einer gewissen Vorsicht genießen sollte. Der Rechtsprechung des BGH dürfte im Ergebnis eine Tendenz zu entnehmen sein, dass Ausführungen des Prozessgegners die gerichtliche Hinweispflicht jedenfalls nicht allzu schnell entfallen lassen. Hinweise des Gegners bleiben aber auch nicht völlig unbeachtet. So kann eine Hinweispflicht dann entfallen, wenn "die betroffene Partei von der Gegenseite die nötige Unterrichtung erhalten" oder d...