Dr. iur. Christian Saueressig
A. Mündliche Verhandlung
I. Verhandeln durch Antragstellen
Rz. 1
Die mündliche Verhandlung wird durch die Antragstellung eingeleitet, § 137 Abs. 1 ZPO. Diese Bestimmung sorgt für Rechtsklarheit. Denn sie regelt nicht nur, wie die Verhandlung ablaufen soll, sondern definiert gleichsam, was eine mündliche Verhandlung ist:
Ohne Antragstellung keine Verhandlung!
Auch wenn der Vorsitzende bereits in den Sach- und Streitstand eingeführt und diesen mit den Parteien erörtert hat, kann von einer mündlichen Verhandlung mit den daran anknüpfenden Rechtsfolgen erst dann gesprochen werden, wenn die Anträge gestellt sind.
OLG Dresden MDR 1997, 498:
Zitat
Es entspricht tatsächlich praktischen Bedürfnissen, die mündliche Verhandlung erst mit Antragstellung beginnen zu lassen, damit zuvor der Sach- und Streitstand erörtert werden kann und sich der Kläger nach Aufzeigen der Erfolgsaussichten, ohne befürchten zu müssen, dass dann von dem Beklagten die Einwilligung verweigert wird, zur Klagerücknahme entschließen kann.
BGH BB 2004, 741, 742:
Zitat
Wenn das Gericht schon vor der Antragstellung die Sach- und Rechtslage mit den Parteien erörtert und ihnen seine Rechtsauffassung mitteilt, so ist das nicht zu beanstanden. Eine solche Verfahrensweise hat den Vorteil, dass sie es den Parteien ermöglicht, ihr Prozessverhalten und ihre Anträge dementsprechend anzupassen.
Erfolgen Hinweise des Gerichts erst im Verhandlungstermin (also nach Antragstellung) und wird darauf bezogen in einem nachgereichten Schriftsatz ergänzend vorgetragen, so ist die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen, dasselbe gilt, wenn ein rechtlich notwendiger Hinweis unterblieben ist (vgl. § 156 ZPO), zum Näheren siehe Rdn 26 f.
Rz. 2
Bei Vertagungen braucht die Antragstellung nicht in jedem Termin wiederholt zu werden; es gilt der Grundsatz der Einheit der Verhandlung. Es empfiehlt sich aber, die Anträge nach einer Beweisaufnahme noch einmal zu stellen ("Die Parteien verhandelten mit den Anträgen wie zu Protokoll vom …"), damit deutlich wird, dass der Bestimmung des § 285 ZPO genügend nach der Beweiserhebung über das Beweisergebnis verhandelt worden ist.
Rz. 3
Die Kommentarliteratur betont, die Antragstellung allein sei noch keine Verhandlung. Dieser Frage kommt aber keine große Bedeutung zu, weil in der Antragstellung die konkludente Bezugnahme auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze liegt.
Mit der Antragstellung gilt alles als vorgetragen, was bis dahin an vorbereitenden Schriftsätzen zur Gerichtsakte gelangt ist.
Rz. 4
Offengelassen hatte der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 noch, ob in der Berufungsinstanz erstinstanzliche Beweisanträge stillschweigend als in Bezug genommen gelten können. Mittlerweile dürfte es nach der Rechtsprechung des BGH einer zweitinstanzlichen Wiederholung des Beweisantritts insbesondere dann nicht bedürfen, wenn die den Beweis beantragende Partei in erster Instanz obsiegt hatte und dafür der Beweisantritt, der nunmehr in der Berufungsinstanz relevant ist, unerheblich war; zum Näheren siehe § 6 Rdn 31 ff.
Auf jeden Fall aber muss das Gericht gemäß § 139 ZPO nachfragen, ob der nun erstmals in der Berufungsinstanz entscheidungserhebliche erstinstanzliche Beweisantrag nicht mehr gestellt werden soll.
Aber (und dies gilt unabhängig davon in welchem Instanzenzug man sich befindet) BGH NJW 1995, 1841:
Zitat
Wird in einem Schriftsatz auf bestimmte Unterlagen Bezug genommen, ohne dass diese beigefügt worden sind oder nachgereicht werden, so werden sie nicht – auch nicht durch Bezugnahme i.S.v. § 137 Abs. 3 ZPO – Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Zur Hinweispflicht des Gerichts siehe Rdn 33.
Rz. 5
Eine Frage in diesem Zusammenhang ist auch, ob das eigene, ihr ungünstige schriftsätzliche Vorbringen einer Partei in jedem Fall durch Bezugnahme als vorgetragen gilt, wenn sie es in der mündlichen Verhandlung nicht ausdrücklich fallen lässt.
Sehr großzügig der BGH MDR 1999, 1025, 1026:
Zitat
Hat der Kläger ein erstes Versäumnisurteil erwirkt und beruft sich der Beklagte in der Einspruchsschrift auf Verjährung, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der Kläger den Inhalt seines Erwiderungsschriftsatzes, mit dem er die Erhebung der Verjährungseinrede durch den Beklagten vorträgt, zum Gegenstand der einseitigen mündlichen Verhandlung vor Erlass des zweiten Versäumnisurteils machen will.
(Die Frage war, ob sich das Gericht bei der für das Versäumnisurteil durchzuführenden Schlüssigkeitsprüfung mit der von dem Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung befassen muss, wenn dieser sie wegen seiner Säumnis nicht in den Rechtsstreit eingeführt hat, wohl aber der Kläger sich in seinem vorbereitenden Schriftsatz dazu geäußert hat, ob er etwa seine Klage selbst unschlüssig gemacht hat.)
Rz. 6
Nicht vorgetragen ist auch ein Schriftsatz, der versehentlich auf der Geschäftsstelle liegengeblieben und dem Richter nicht vorgelegt worden ist; bleibt dieser Vortrag deshalb unberücksichtigt, ist der Anspruch der Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, Art. 103 Abs. 1 GG; ...