Dr. Wolfgang Kürschner, Karl-Hermann Zoll
1. Rechtsnatur, Voraussetzungen
Rz. 92
Die Haftung aus Vertrag einerseits und aus unerlaubter Handlung andererseits wurde als unzureichend empfunden, insbesondere für den Bereich fahrlässig verursachter Vermögensschäden. Die Rechtsprechung hatte einen Weg gefunden, diese Haftungslücke für bestimmte Fallkonstellationen zu schließen. Bereits mit der Aufnahme von Vertragsverhandlungen oder eines diesen gleichzustellenden geschäftlichen Kontaktes entsteht ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis, das die beteiligten potenziellen Partner zur Sorgfalt von "Schuldnern" verpflichtet. Das Gesetz hatte früher insoweit lediglich Einzelfälle geregelt (z.B. in §§ 307, 309, 663, 694 BGB a.F.). Darüber hinausgehend waren jedoch das Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen und die Rechtsfolgen einer Haftung für sog. culpa in contrahendo (c.i.c.) gewohnheitsmäßig anerkannt. Durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz wurde neben dem Rechtsinstitut der positiven Vertragsverletzung auch das der culpa in contrahendo in die gesetzliche Neufassung des Leistungsstörungsrechts aufgenommen. § 311 Abs. 2 BGB regelt entsprechend der zu culpa in contrahendo ergangenen Rechtsprechung, wann ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB entsteht; über den Inhalt und die Reichweite der dadurch entstehenden Pflichten ergibt sich aus § 311 Abs. 2 und 3 BGB unmittelbar nichts; § 311 Abs. 2 BGB verweist aber insoweit auf § 241 Abs. 2 BGB und damit auf den Grundsatz, dass das Schuldverhältnis jeden Teil zu besonderer Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet. Eine Verletzung dieser Pflichten führt dann zu einem Schadensersatzanspruch aus § 280 BGB. § 311 Abs. 2 BGB erfasst die (von der Rechtsprechung zu culpa in contrahendo entwickelten) Fälle der Aufnahme von Vertragsverhandlungen (Nr. 1), der Vertragsanbahnung (Nr. 2) und ähnlicher geschäftlicher Kontakte (Nr. 3). Nr. 2 ist der Grundtatbestand des 2. Absatzes, der durch die Spezialregelungen in Nr. 1 und 2 Ergänzungen erfährt. Des Weiteren erfasst § 311 Abs. 3 BGB die (von der Rechtsprechung ebenfalls zu culpa in contrahendo entwickelten) Fälle der sog. "Vertreter- oder Sachwalterhaftung", also die Fälle, in denen ein nicht direkt am Vertrag beteiligter Dritter besonderes Vertrauen (Vertreter, Sachverständiger etc.) in Anspruch nimmt. Die vor der Kodifizierung von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze gelten unverändert weiter; entsprechendes gilt für die seit langem anerkannten Fallgruppen (dazu unten Rdn 90 ff.).
Rz. 93
Das durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen entstehende Schuldverhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass es keine primären Leistungspflichten kennt, sondern lediglich Pflichten zur gegenseitigen Rücksicht, Fürsorge und Loyalität.
Rz. 94
Die Haftung setzt in der Regel – wie bei einem bestehenden gesetzlichen oder vertraglichen Schuldverhältnis – Verschulden, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit, des in Anspruch genommenen voraus. § 278 BGB findet Anwendung. Bestehen für das angebahnte Rechtsverhältnis Haftungsmilderungen (z.B. gemäß §§ 521 oder 690 BGB), so gelten diese auch für die Haftung aus culpa in contrahendo, es sei denn, dass es um die Verletzung von Schutzpflichten geht, die nicht in Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand stehen; daher rechtfertigt die Großzügigkeit des Schenkers es nicht, die Haftungsmilderung auch da eingreifen zu lassen, wo es um die Verletzung von Schutzpflichten geht, die nicht im Zusammenhang mit dem Vertragsgegenstand stehen, Haftungsmilderungen für einzelne Schuldverhältnisse greifen nicht, wenn es sich um die Verletzung von vorvertraglichen oder vertraglichen Schutzpflichten handelt, die nicht an dem Erfüllungsinteresse des Gläubigers ausgerichtet sind, sondern dem Integritätsinteresse (Erhaltungsinteresse) des Vertragspartners dienen. Die Haftungsmilderung des § 521 BGB schlägt allerdings dann, wenn und soweit sie einem Schenker nach diesen Grundsätzen bei der Verletzung seiner vertraglichen und vorvertraglichen Schutzpflichten zugutekommt, auch auf Ansprüche des Beschenkten aus unerlaubter Handlung durch.
2. Anwendungsbereich und Abgrenzung
Rz. 95
Die Haftung aus culpa in contrahendo entfällt, soweit abschließende gesetzliche Regelungen bestehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht einem Schadensersatzanspruch des Käufers gegenüber dem Verkäufer wegen Verschuldens bei Vertragsschluss der grundsätzliche Vorrang des in §§ 434 ff. BGB geregelten Sachmängelrechts entgegen. Ein einem Käufer gegen den Verkäufer zustehender Nacherfüllungsanspruch aus §§ 437 Nr. 1, 439 BGB entfaltet daher eine "Sperrwirkung" gegenüber einem etwaigen Anspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss wegen (fahrlässig) irreführender Darstellung des Fahrzeugs in einer Offerte. Der Grundsatz, wonach Ansprüche wegen Verschuldens bei Vertragsschluss im Sachbereich der §§ 434 ff. BGB nach Gefahrübergang grundsätzlich...