Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 106
Welche Form von Behindertentestament der Erblasser wählt, orientiert sich an seiner Zielsetzung und der Größe und Komplexität des Nachlasses. Wird der bedürftige Mensch mit Behinderung mit anderen zusammen Miterbe, ist er Mitglied einer Erbengemeinschaft mit all ihren der Gesamthandsgemeinschaft typischen Beschränkungen und Problemen.
Der entscheidende Nachteil des klassischen Behindertentestaments korrespondiert mit dem entscheidenden Vorteil der Vermächtnislösung. Der entscheidende Nachteil der Erbschaftslösung liegt in der gesamthänderischen Bindung des Nachlasses, der auf Dauer gemeinschaftlich verwaltet werden muss. Der Bedarf, eine solche Erbengemeinschaft auseinanderzusetzen, ist groß und überdies fehlerträchtig. Der zusätzliche Gestaltungsbedarf, um diese Nachteile bei der Erbauseinandersetzung zu kompensieren, ist erheblich. Regelhaft wird z.B. empfohlen, zumindest Nacherbentestamentsvollstreckung (§ 2222 BGB) anzuordnen, um Substanzzugriffe und Erbauseinandersetzungen zu ermöglichen. Die klassischen Erbschaftsfälle, bei denen der Nachlass im Wesentlichen in der Wohnimmobilie der Ehegatten – bzw. den entsprechenden Miteigentumsanteilen – besteht, werden als besondere Gefahr angesehen, weil ohne Anordnung eines Auseinandersetzungsverbots grundsätzlich ein Anspruch des Miterben auf Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft gemäß § 2042 BGB besteht und der Verlust der Immobilie für den überlebenden, sich in Erbengemeinschaft mit dem bedürftigen Kind befindenden Ehegatten droht (die Interessenkollision des überlebenden Ehegatten als gleichzeitiger Testamentsvollstrecker liegt auf der Hand).
Rz. 107
Auf ein Auseinandersetzungsverbot gänzlich zu verzichten, wird deshalb als ungünstig angesehen. Um andererseits die Nachteile des Gesamtausschlusses der Erbengemeinschaft nach § 2044 BGB zu kompensieren, werden empfohlen:
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Anordnung eines Ausschlusses der Erbengemeinschaft, die an die Zustimmung des überlebenden Ehegatten bzw. die nicht beschränkten und/oder beschwerten Kinder gebunden ist |
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Gestaltung einer Zuweisungsmöglichkeit des Testamentsvollstreckers von Einzelgegenständen an Miterben gegen Abfindung |
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Gestaltung eines Übernahmerechts des Ehegatten an der selbstbewohnten Immobilie ohne gleichzeitige Übernahmeverpflichtung, z.B. im Rahmen einer Teilungsanordnung. |
Die Erbschaftslösung – allein in ihrer Grundform – kränkelt daher nicht selten.
Rz. 108
Die Vermächtnislösung hat demgegenüber den Vorteil, dass sie im Falle, dass mehrere Erben in Betracht kommen, die gesamthänderische Bindung und eine notwendige Erbauseinandersetzung unter Beteiligung z.B. eines Kindes mit Behinderung bzw. dessen Testamentsvollstrecker vermeidet. Damit werden auch Fehler bei einer Erbteilung von vorneherein vermieden (vgl. nachfolgend Rdn 215) Eine Verbindung besteht nur durch den schuldrechtlichen Anspruch des Vermächtnisnehmers. Da der Begünstigte nicht Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers wird, sind und bleiben die Vermögensmassen getrennt. Außerdem ergeben sich durch die Zuwendung unterschiedlichster Gegenstände und Sachen individuellere Gestaltungsmöglichkeiten.
Rz. 109
Der entscheidende Nachteil der Vermächtnislösung liegt darin, dass es bisher zu dieser Lösung kaum Rechtsprechung gibt und deshalb die hier evtl. bestehenden Risiken und Fragen nicht geklärt sind. In der Literatur wird über die Eignung der Lösung gestritten. Die wesentlichen Kritikpunkte setzen an dem Unterschied an, der zwischen dem Übergang von Vermögen von dem Vor- auf den Nacherben und dem Vor- auf den Nachvermächtnisnehmer liegt:
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Der Nacherbe erwirbt vom Erblasser, nicht vom Vorerben. Der Nachvermächtnisnehmer erwirbt vom Vorvermächtnisnehmer, nicht vom Erben. |
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Im Fall von Vor- und Nacherbschaft vollzieht sich der Übergang vom Erben auf den Nacherben mit dem Tod des Vorerben automatisch im Wege des dinglichen Von-Selbst-Erwerbes. Die Anordnung eines Nachvermächtnisses führt nicht zum automatischen Rechtserwerb mit dem Tod des Vorvermächtnisnehmers. Sie wirkt nicht dinglich. Die Anordnung des Nachvermächtnisses gibt nur einen schuldrechtlichen Anspruch auf Erfüllung. |
Die unterschiedliche rechtliche Ausgestaltung führt dazu, dass die Trennung von Eigen- und Vermächtnisvermögen beim Tod des Vorvermächtnisnehmers endet, das Vermögen miteinander verschmilzt und die sozialhilferechtliche Erbenhaftung zum Problem für den Erben des Vorvermächtnisnehmers werden könnte (§ 102 SGB XII).
Rz. 110
Über die Frage, welche Konsequenzen sich in diesem Zusammenhang aus der Regelung "Die Ersatzpflicht ist auf den Nachlasswert im Zeitpunkt des Erbfalls begrenzt" ergeben könnten, wird ebenfalls heftig diskutiert.
Die einen kritisieren:
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Der Erbe des Vorvermächtnisnehmers sei wegen der sozialhilferechtlichen Erbenhaftung der § 102 SGB XII, § 35 SGB II und der Pflicht zur Erfüllung des Nachvermächtnisses doppelt belastet (§ 35 SGB II gilt seit 2016 nicht mehr. § 102 SGB XII gilt seit 1.1.2020 nur noch für die sog. Fachleistungen ... |