Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 51
Liegt dem Urteil nicht lediglich eine falsche rechtliche Beurteilung zugrunde, sondern beruht die falsche erstinstanzliche Entscheidung darauf, dass der Sachverhalt unzutreffend erfasst worden ist, ist nach § 520 Abs. 3 Nr. 3 und 4 ZPO Folgendes aufzuführen:
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die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten, |
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die Bezeichnung der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie der Tatsachen, aufgrund derer die neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen sind. |
Rz. 52
Nach § 531 Abs. 2 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel (nur) zulässig, wenn sie einen Aspekt betreffen, der vom erstinstanzlichen Gericht erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten bzw. wegen eines Verfahrensmangels oder ohne Nachlässigkeit der Partei nicht geltend gemacht worden sind. Auch ist ein in zweiter Instanz konkretisiertes Vorbringen dann nicht neu, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus erster Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird.
Rz. 53
In der Berufung werden neue Tatsachenbehauptungen also grundsätzlich nicht zugelassen, weshalb bereits in der ersten Instanz sorgfältig vorzutragen ist. Eine Ausnahme gilt – ohne dass § 531 Abs. 2 ZPO dies erwähnt – allerdings für neue Tatsachen, die unstreitig bleiben, und wenn eine Zurückweisung dieser nunmehr vorgebrachten Tatsachen durch das Gericht zu einer evident unrichtigen Entscheidung führen würde.
Rz. 54
Nach der Rechtsprechung des BGH darf neuer Tatsachenvortrag in der Berufungsinstanz, der unstreitig bleibt, vom Berufungsgericht nicht gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen werden. Denn unstreitige Tatsachen, die erstmals im Berufungsrechtszug vorgetragen werden, sind stets zu berücksichtigen, und zwar selbst dann, wenn der unstreitige Vortrag im Hinblick auf Folgefragen eine Beweisaufnahme erfordert. Deshalb würde das Berufungsgericht also neue unstreitige Tatsachen berücksichtigen. Daraus folgt wiederum, dass der Vortrag der anderen Partei sorgfältig zu prüfen ist und, soweit möglich, eventuell zu bestreiten sein wird.
Stützt sich eine Berufung ausschließlich auf neues Vorbringen, muss unbedingt dargestellt werden, dass das neue Vorbringen nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen ist; ansonsten droht die sofortige Zurückweisung durch Beschluss. Insoweit ist es unerheblich, dass sich die neuen Tatsachen während des Berufungsverfahrens als unstreitig erweisen könnten.
Rz. 55
Weil unter den Begriff der "neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel" i.S.d. § 531 ZPO nur streitiges – und damit beweisbedürftiges – Vorbringen fällt, ist auch das Erheben einer Einrede, die erstmals im Berufungsrechtszug erhoben wird, zuzulassen, sofern die den Verjährungseintritt begründenden tatsächlichen Umstände zwischen den Prozessparteien und das Erheben der Einrede selbst unstreitig sind.
Rz. 56
Auch im Rahmen einer Änderung oder Erweiterung einer Klage kann es gelingen, den bisherigen, unzureichenden Klageantrag zu vervollständigen, denn die insoweit nach §§ 296, 530, 531 ZPO vorgetragenen Angriffs- oder Verteidigungsmittel können nicht als verspätet zurückgewiesen werden, weil dies andernfalls in unzulässiger Weise die nach dem Gesetz grundsätzlich ausgeschlossene Präklusion des Angriffs selbst zur Folge hätte. Der BGH hat ausdrücklich entschieden, dass auch in den Fällen, in denen eine an sich zulässige Klageänderung oder Klageerweiterung in erster Linie gerade darauf abzielt, mit dem dazugehörenden Tatsachenvortrag den bislang unbegründeten Klageantrag zu rechtfertigen, keine Präklusion nach §§ 296, 530, 531 ZPO infrage kommt.