Rz. 123
Grobe Fahrlässigkeit wird in der Kaskoversicherung vor allem angenommen bei:
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Führen eines Kfz im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit: es gelten dieselben Voraussetzungen der absoluten und relativen Fahruntüchtigkeit wie im Strafrecht (BGH VersR 1988, 733; BGH NJW 1991, 1367; BGH NJW 1992, 119; BGH zfs 1993, 312; OLG Celle zfs 1996, 222); |
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Rotlichtverstößen (BGH NZV 1992, 402; OLG Hamm zfs 1999, 200, 201); |
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Überfahren eines deutlich ausgeschilderten Stoppschildes (OLG Hamm zfs 1998, 262); |
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Bücken nach heruntergefallenen Gegenständen oder Zigarette (OLG Hamm VersR 1987, 353; r+s 2000, 229; OLG Jena zfs 1996, 340; OLG Naumburg zfs 1997, 423); |
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Telefonieren mit Handy ohne Freisprechanlage bei hoher Geschwindigkeit (OLG Koblenz VersR 1999, 503); |
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besonders gravierenden und besonders vorwerfbaren groben Verkehrsverstößen: z.B. Überholen auf der Autobahn trotz Geschwindigkeitsbegrenzung und Überholverbot; Abkommen von einer ca. 300 m gerade verlaufenden Straße; Wechseln der Kassette während der Fahrt; Anzünden einer Zigarette während der Fahrt (OLG Frankfurt zfs 1996, 61); |
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Einschlafen am Steuer, wenn unübersehbare Anzeichen der Ermüdung vorausgehen (OLG Hamm zfs 1998, 182); |
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Bedienung des Navis bei weit über Richtgeschwindigkeit liegender Geschwindigkeit, nämlich 200 km/h (OLG Nürnberg, zfs 2019, 453); |
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mangelnder Sicherung des Fahrzeugs: z.B. nicht abgezogene Fahrzeugschlüssel; nicht abgeschlossenes Lenkradschloss; Zurücklassen des Zweitschlüssels im Fahrzeug (LG Gießen zfs 1996, 263; OLG Karlsruhe zfs 1996, 458; OLG Oldenburg zfs 1997, 141); |
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Überlassen des Fahrzeugs an Kaufinteressenten ohne Sicherheit (OLG Düsseldorf NVersZ 2000, 336); |
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Einwerfen des Fahrzeugschlüssels in ungesicherten Briefkasten der Werkstatt (OLG Köln NVersZ 2001, 276); |
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Aufhängen einer Jacke mit Fahrzeugschlüsseln in einer Gaststätte zur Karnevalszeit (OLG Hamm NZV 2004, 412). |
Rz. 124
Insbesondere die beiden letztgenannten Fallgruppen kommen in der Praxis ständig vor. Dennoch droht stets eine Leistungskürzung wegen grober Fahrlässigkeit. Auch bei den genannten Beispielen ist stets wiederum die erforderliche Kausalität zu beachten. So ist davon auszugehen, dass regelmäßig keine Kausalität vorliegt, wenn Fahrzeugpapiere oder -schlüssel versteckt im Fahrzeug aufbewahrt werden, da ein Dieb nicht typischerweise zunächst das Fahrzeuginnere nach Schlüsseln oder Papieren absucht (BGH VersR 1995, 909; OLG Celle zfs 1997, 301; OLG Dresden zfs 2019, 396).
Rz. 125
Demgegenüber wird bei vorliegender Fahruntüchtigkeit regelmäßig die Kausalität im Wege des Anscheinsbeweises vermutet, sodass der Versicherungsnehmer den Anscheinsbeweis nur dadurch erschüttern kann, dass er darlegt und notfalls beweist, dass der Unfall so auch dem nüchternen Fahrer passiert wäre. Allerdings darf im Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit – wie es in der Praxis immer wieder geschieht – nicht vorschnell von einem unfallbedingten Fahrfehler auf eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit geschlossen werden, insbesondere bei verhältnismäßig geringer alkoholischer Beeinflussung (OLG Brandenburg zfs 2020, 152: Keine relative Fahruntüchtigkeit, wenn Fahrzeugführer mit einer BAK von 0,49 Promille von der Fahrbahn abkommt und dies plausibel mit einer plötzlich die Straße überquerenden Wildschweinrotte erklärt).
Rz. 126
Die Fallbeispiele zeigen, dass die Rechtsprechung die Anwendung der groben Fahrlässigkeit in der Kaskoversicherung sehr weit ausgedehnt hat. Dies führte insbesondere wegen des bisher geltenden Alles-oder-Nichts-Prinzips häufig zu unbefriedigenden Ergebnissen.
Beachte
Aus diesem Grunde hatte der Arbeitskreis VII – Kaskoversicherung – des 38. Deutschen Verkehrsgerichtstags 2000 den Versicherern empfohlen, folgende Klausel in die AKB aufzunehmen:
"Der Versicherer verzichtet in der Voll- und Teilversicherung dem Versicherungsnehmer gegenüber auf den Einwand der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls. Er ist berechtigt, seine Leistung in einem dem Grad des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Ausgenommen von dem Verzicht sind die grob fahrlässige Ermöglichung des Diebstahls des Fahrzeugs oder seiner Teile und die Herbeiführung des Versicherungsfalls infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel."
Rz. 127
Über diese Empfehlung des 38. Deutschen Verkehrsgerichtstags 2000 sogar hinaus gehend bieten eine Reihe verschiedener Versicherer AKB mit einer Individualklausel dahingehend an, dass in der Kaskoversicherung auch bei grober Fahrlässigkeit (ungekürzter) Versicherungsschutz gewährt wird. Ausgenommen von dieser Deckungserweiterung sind lediglich die grob fahrlässige Herbeiführung des Fahrzeugdiebstahls und die Verursachung eines Verkehrsunfalls infolge Alkohol- oder Drogenkonsums.
Rz. 128
Hinweis
Es empfiehlt sich daher, einen Versicherungsvertrag mit der Vereinbarung von AKB zu wählen, welche den vorgenannten Verzicht auf die Einwendung der groben Fahrlässigkeit enthalten. A...