Prof. Dr. Karsten Metzlaff
Rz. 16
Zur Vorlage einer entscheidungserheblichen Frage verpflichtet sind die letztinstanzlichen Gerichte (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Vorlagepflichtige Gerichte sind nach der herrschenden Meinung, der offenbar auch der EuGH zuneigt, nicht nur diejenigen mitgliedstaatlichen Gerichte, deren Entscheidungen generell nicht mit Rechtsmitteln angegriffen werden können (also insbesondere die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder und die Obersten Bundesgerichte), sondern unabhängig von ihrer gerichtsverfassungsrechtlichen Stellung alle Gerichte, gegen deren Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht keine ordentlichen Rechtsmittel gegeben sind.
In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes besteht grundsätzlich keine Vorlagepflicht, sofern in dem Hauptsacheverfahren noch eine Prüfung von Unionsrecht möglich ist. Ist ein einstweiliger Rechtsschutz vor Unionsgerichten nicht zu erlangen und kommt es auf die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht an, so hat das nationale Gericht auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzulegen.
In den Verfahren, in denen eine Revision nur möglich ist, wenn sie vom Instanzgericht zugelassen worden ist (§ 543 ZPO, § 132 VwGO, § 115 FGO), ist die Nichtzulassungsbeschwerde Rechtsmittel i.S.v. Art. 267 Abs. 3 AEUV. Die Instanzgerichte (OLG, OVG, FG) sind also nicht zur Vorlage verpflichtet. Das setzt allerdings voraus, dass Rechtsfragen aus dem Bereich des Unionsrechts bereits dann grundsätzlich im Sinne des Revisionsrechts sind und damit den Revisionsrechtsweg eröffnen, wenn sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Vorlagepflichtig sind auch alle Instanzgerichte, die Zweifel an der Gültigkeit eines Unionsrechtsaktes haben; sie können nicht von sich aus die Unwirksamkeit des Unionsrechts feststellen.
Rz. 17
Der EuGH hat in einer Grundsatzentscheidung (1982) Kriterien für die Vorlagepflicht aufgestellt. Danach müssen solche Fragen dem Gerichtshof vorgelegt werden, die für den Rechtsstreit entscheidungserheblich sind und noch nicht Gegenstand einer Auslegung des Gerichtshofes waren. Die Vorlagepflicht entfällt in nur drei Fällen: Wenn zur betreffenden Rechtsfrage bereits gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, wenn die Frage in einem gleichgelagerten Fall bereits beantwortet wurde (acte éclairé) und wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass insoweit kein vernünftiger Zweifel besteht (acte clair). Davon darf das nationale Gericht jedoch nur dann ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Bei dieser Prüfung sind die Eigenheiten des Unionsrechts, die besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung, ein Vergleich der verschiedenen, gleichermaßen verbindlichen sprachlichen Fassungen der Unionsvorschriften, die besondere Terminologie des Unionsrechts zu berücksichtigen sowie die Notwendigkeit, eine Vorschrift des Unionsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Unionsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstandes zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen. Kurz gesagt bedeuten diese weitgehenden Kriterien der Vorlagepflicht: Ein letztinstanzliches Gericht muss dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage immer dann vorlegen, wenn es nach umfassender Prüfung auch nur den leisesten Zweifel über die Auslegung entscheidungsrelevanten Unionsrechts hat. Diese Grundsätze können nicht nur herangezogen werden, um dem letztinstanzlichen Gericht seine Vorlagepflicht zu verdeutlichen, sondern auch dann, wenn – im Interesse der Prozessökonomie – bereits ein Instanzgericht zur Vorlage beim Gerichtshof veranlasst werden soll.