Prof. Dr. Karsten Metzlaff
Rz. 13
Die weitaus größte Bedeutung für den Rechtsschutz bei der Anwendung von Unionsrecht kommt den nationalen Gerichten zu. Sie prüfen Gültigkeit und Auslegung des Unionsrechts einschließlich des (umgesetzten) nationalen Rechts, das auf Unionsrecht (insbesondere Richtlinien) beruht. Das letzte Wort hat insoweit allerdings im Interesse einheitlicher Geltung und Anwendung des Unionsrechts der EuGH. Er entscheidet gem. Art. 267 AEUV im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge und die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union, also das sog. sekundäre Unionsrecht. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaates gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen; ein letztinstanzliches Gericht muss vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV).
1. Vorlagerecht
Rz. 14
Ein Vorlagerecht hat jedes nationale Gericht in jedem Stadium des Verfahrens. Ausnahme: Die Frage der Gültigkeit eines Rechtsaktes (etwa ein Beschluss der Kommission, mit dem eine nationale Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt nicht vereinbar erklärt wird), der von dem Betroffenen mit der Direktklage vor dem EuG (siehe Rdn 8) hätte angefochten werden können, kann dem EuGH nicht mehr im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt werden; mit Ablauf der Anfechtungsfrist von zwei Monaten hat der Rechtsakt Bestandskraft.
Rz. 15
Ein Vorlagerecht besteht auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. Soweit es um Unionsrecht geht, können nationale Gerichte vorläufigen Rechtsschutz (etwa die Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Verordnung beruhenden Abgabenbescheides) nur bei Vorliegen der folgenden Voraussetzungen gewähren: Wenn sie erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Handlung der Union haben und diese Gültigkeitsfrage dem Gerichtshof vorlegen; wenn die Entscheidung dringlich in dem Sinne ist, dass der vorläufige Rechtsschutz erforderlich ist, um zu vermeiden, dass die ihn beantragende Partei einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet; wenn sie das Interesse der Union angemessen berücksichtigen; wenn sie bei der Prüfung dieser Voraussetzungen die Entscheidungen des EuGH oder des EuG über die Rechtmäßigkeit der Verordnung oder einen Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (gleichartige Maßnahmen auf Unionsebene betreffend) beachten.
Kein Vorlagerecht haben auf Parteivereinbarung beruhende Schiedsgerichte.
2. Vorlagepflicht
Rz. 16
Zur Vorlage einer entscheidungserheblichen Frage verpflichtet sind die letztinstanzlichen Gerichte (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Vorlagepflichtige Gerichte sind nach der herrschenden Meinung, der offenbar auch der EuGH zuneigt, nicht nur diejenigen mitgliedstaatlichen Gerichte, deren Entscheidungen generell nicht mit Rechtsmitteln angegriffen werden können (also insbesondere die Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder und die Obersten Bundesgerichte), sondern unabhängig von ihrer gerichtsverfassungsrechtlichen Stellung alle Gerichte, gegen deren Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht keine ordentlichen Rechtsmittel gegeben sind.
In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes besteht grundsätzlich keine Vorlagepflicht, sofern in dem Hauptsacheverfahren noch eine Prüfung von Unionsrecht möglich ist. Ist ein einstweiliger Rechtsschutz vor Unionsgerichten nicht zu erlangen und kommt es auf die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht an, so hat das nationale Gericht auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzulegen.
In den Verfahren, in denen eine Revision nur möglich ist, wenn sie vom Instanzgericht zugelassen worden ist (§ 543 ZPO, § 132 VwGO, § 115 FGO), ist die Nichtzulassungsbeschwerde Rechtsmittel i.S.v. Art. 267 Abs. 3 AEUV. Die Instanzgerichte (OLG, OVG, FG) sind also nicht zur Vorlage verpflichtet. Das setzt allerdings voraus, dass Rechtsfragen aus dem Bereich des Unionsrechts bereits dann grundsätzlich im Sinne des Revisionsrechts sind und damit den Revisionsrechtsweg eröffnen, wenn sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Vorlagepflichtig sind auch alle Instanzgerichte, die Zweifel an der Gültigkeit eines Unionsrechtsaktes haben; sie können nicht von sich aus die Unwirksamkeit des Unionsrechts feststellen.
Rz. 17
Der EuGH hat in einer Grundsatzentscheidung (1982) Kriterien für die Vorlagepflicht aufgestellt. Danach müssen solche Fragen dem Gerichtshof vorgelegt werden, die für den Rechtsstreit entscheidungserheblich sind und noch nicht Gegenstand...