Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 467
Nach § 19 Abs. 4 VVG ist das Rücktrittsrecht des Versicherers (wegen grob fahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht) und sein Kündigungsrecht (bei einfacher Fahrlässigkeit) nach § 19 Abs. 3 S. 2 VVG ausgeschlossen, wenn er den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände zu anderen Bedingungen geschlossen hätte. In diesen Fällen kann eine Vertragsanpassung rückwirkend ab Vertragsschluss erfolgen. Die Anpassung erfolgt jedoch nicht automatisch, sondern muss vom Versicherer gegenüber dem Versicherungsnehmer "verlangt", d.h. ausdrücklich erklärt werden (§ 19 Abs. 4 S. 2 VVG). Hat der Versicherungsnehmer die Obliegenheit völlig schuldlos verletzt, kann die Modifizierung des Vertrages erst ab der laufenden Versicherungsperiode (vgl. § 12 VVG) eingreifen (§ 19 Abs. 4 S. 2 VVG).
Rz. 468
Dem Wortlaut der Norm nach kann ein Risikoausschluss, der auf den Beginn der laufenden Versicherungsperiode rückwirkt, dazu führen, dass – sogar bei fehlendem Verschulden – Leistungsfreiheit eintritt, wenn der Versicherungsfall in der laufenden Versicherungsperiode eingetreten war. Im Falle der Kündigung hingegen entfällt die Leistungspflicht erst für die Zukunft und beinhaltet daher überraschender Weise eine mildere Rechtsfolge, da für den in Rede stehenden Versicherungsfall noch geleistet werden muss. Dies ist inkonsequent, weil die Vertragsanpassung eigentlich nur subsidiär zur Kündigungsmöglichkeit vorgesehen ist, jedoch eine schärfere Rechtsfolge haben kann.
Hinweis
Ob diese Auswirkungen hinzunehmen sind bzw. ein gesetzgeberisches Versehen vorliegt, ist umstritten.
Es wird vertreten, dieses Ergebnis sei hinzunehmen, da zumindest der Versicherungsvertrag für die Zukunft und damit der Schutz im Übrigen bestehen bleibe. Außerdem solle der Versicherungsnehmer, der seiner Anzeigepflicht genügt habe, nicht schlechter gestellt werden, als der, der dies nicht tat. Letzteres mag für leicht fahrlässig handelnde Versicherungsnehmer evtl. noch vertretbar sein, keinesfalls aber in Bezug auf schuldlos handelnde. Es fragt sich weiter, welchen Sinn die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes für die Zukunft noch hat, wenn der Versicherte bereits berufsunfähig geworden ist. Im Übrigen ergeben sich durch die (zufällige) zeitliche Lage des Eintritts des Versicherungsfalls (vor oder in der laufenden Versicherungsperiode) beliebige Ergebnisse. Es gibt keinen Grund für eine derartige Benachteiligung.
Tatsächlich hat der Gesetzgeber die Problematik nicht explizit erkannt; es besteht keine bewusste Regelungslücke, sondern vielmehr ein Wertungswiderspruch zur Intention des neuen VVG, so dass eine teleologische Reduktion der Möglichkeit zur rückwirkenden Vertragsänderung zum Beginn der laufenden Versicherungsperiode bei schuldloser und einfach fahrlässiger Obliegenheitsverletzung vorzunehmen ist. Die Vertragsänderung in Gestalt des Risikoausschlusses wirkt daher lediglich ab dem Zeitpunkt des Zugangs der Erklärung.
Eine Leistungsfreiheit wäre nicht interessengerecht und gesetzgeberisch nicht gewollt. In der Begründung des Gesetzentwurfs finden sich lediglich ausdrückliche Bezugnahmen auf die Frage der Prämienanpassung. Hierzu wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, eine rückwirkende Erhöhung der Prämie würde im Falle einer unverschuldeten Verletzung der Anzeigepflicht zu einer Schlechterstellung des Versicherungsnehmers gegenüber § 41 VVG a.F. führen. Diese Abweichung vom geltenden Recht zu Ungunsten des Versicherungsnehmers erscheine auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Versicherers unbillig. Daher sollte § 19 Abs. 3 S. 2 VVG für den Fall einer Anzeigepflichtverletzung ohne Verschulden des Versicherungsnehmers die Bestimmung des § 41 Abs. 1 S. 1 VVG übernehmen, wonach die bei richtiger und vollständiger Anzeige maßgeblichen Bedingungen des Versicherers "insbesondere eine erhöhte Prämie" ab Beginn der laufenden Versicherungsperiode Vertragsbestandteil werden.
Allerdings regelte § 41 VVG a.F. ausschließlich die Möglichkeit der Prämienerhöhung bei schuldlosem Handeln. Auch ein Verweis auf die Ausnahmeregelung für die Krankenversicherung, bei der bei schuldlosem Verhalten der bisherige Rechtszustand aufrecht erhalten bleiben und damit sowohl die Kündigung als auch die Prämienerhöhung ausgeschlossen sein sollte, hilft nicht weiter. Man kann keinesfalls schlussfolgern, dass im Übrigen auch schuldloses Verhalten sanktioniert werden sollte. Hier wird nämlich ebenfalls nur auf die Prämienproblematik abgestellt. Der Gesetzgeber hat mithin die Gefahr der Schlechterstellung des schuldlos oder einfach fahrlässig handelnden Versicherten bei rückwirkender Vertragsanpassung mittels Risikoausschluss nicht gesehen.
Die Regelungen des VVG 2008 sollten insgesamt keine Schlechterstellung des Versicherungsnehmers herbeiführen. Das Gesetz sollte an die Bedürfnisse eines modernen Verbraucherschutzes angepasst und die bisherige Rechtsprechung und Vertragspraxis zeitgemäß und übersichtl...