Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 82
Einwendungen gegen die auf der Grundlage eines gerichtlichen medizinischen Sachverständigengutachtens getroffene erstinstanzliche Tatsachenfeststellung können noch im Berufungsverfahren mithilfe eines medizinischen Privatgutachtens erhoben werden. Allerdings bedeutet dies nicht, dass damit die im Privatgutachten enthaltenen neuen Tatsachen in den Prozess gleichsam noch durch die Hintertür eingeführt werden könnten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der gerichtliche Sachverständige bei der Exploration der versicherten Person hinreichende Feststellungen zu Biographie, Beschwerden, Krankheitsverlauf und einschränkenden Auswirkungen der Erkrankung gemacht hat.
Rz. 83
Da es sich bei einem Parteigutachten nur um Parteivortrag handelt, kann die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens allenfalls dann entbehrlich sein, wenn das Gericht dieses ohne Rechtsfehler für eine zuverlässige Beantwortung der Beweisfrage für ausreichend halten darf, z.B. wenn der Prozessgegner dem Vorbringen nicht substantiiert entgegengetreten ist.
Rz. 84
Es ist auch möglich, dass das Gericht ein Gutachten aus Rechtsstreitigkeiten zwischen anderen Parteien verwertet, sofern es seine Erkenntnisse prozessordnungsgemäß in den Rechtsstreit einführt und den Prozessbeteiligten hinreichend Gelegenheit gibt, hierzu Stellung zu nehmen.
Rz. 85
Mit der Vorlage des gerichtlichen Gutachtens ist die Feststellung des streitigen medizinischen Sachverhaltes noch nicht abgeschlossen. Zu dieser Feststellung gehört nämlich auch die Überzeugung des Gerichts von der Richtigkeit des Ergebnisses der Begutachtung. Damit ist die kritische Würdigung des Gutachtens Teil des Feststellungsprozesses, an dem sich die Parteivertreter aktiv beteiligen sollten. Es entspricht der Erfahrung, dass das Gericht ansonsten dem Gutachten folgt, obwohl es von Amts wegen gehalten ist, sich mit diesem auseinanderzusetzen und Ungereimtheiten aufzuklären. Dabei darf es nicht aus eigener Sachkunde oder auf der Grundlage anderweitig gewonnener Erkenntnisse von dem eingeholten Gutachten abweichen, ohne den Sachverständigen dazu zu hören. Andererseits bleibt aber die Ermittlung des Grades der Berufsunfähigkeit primär Aufgabe des Gerichts und nicht des medizinischen Gutachters. Der Sachverständige muss bei der Beurteilung des Grades der Berufsunfähigkeit die tatsächlichen medizinischen Grundlagen für seine Bewertung mit ihren Auswirkungen auf die konkrete berufliche Tätigkeit hinreichend nachvollziehbar erklären. Dafür müssen im Regelfall die einzelnen Tätigkeitsmerkmale einzeln untersucht und im Rahmen der Gesamtwürdigung entsprechend berücksichtigt werden. Geprüft werden muss auch, welche beruflichen Einzeltätigkeiten noch bzw. in welchem Umfang ausgeführt werden können. Kann die versicherte Person eine bestimmte Teiltätigkeit nur noch teilweise ausüben, weil sie z.B. mit zu schwerem Tragen verbunden ist, müssen stets die Konsequenzen bedacht werden; es würden etwa bei der Anlieferung bestimmter Produkte dann die zu schweren Waren auf der Straße liegen bleiben. Das bedeutet, dass die versicherte Person diese Teiltätigkeit überhaupt nicht mehr ausüben kann, sofern für den anderen Teil keine Hilfsperson zur Verfügung steht. Für Selbstständige stellt sich insoweit die Frage, ob es zumutbar ist, dass für diese Teiltätigkeit eine Person angestellt wird (vgl. hierzu Rdn 99 ff.).
Rz. 86
Es steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, ob es eine Anordnung zur persönlichen Anhörung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung trifft, oder ob die nach einem schriftlichen Gutachten verbleibenden Fragen durch ein ergänzendes schriftliches Gutachten einer Klärung zugeführt werden. Die Parteien haben jedoch ein eigenes, originäres Fragerecht und einen Anspruch darauf, dass der Sachverständige zur mündlichen Erörterung des Gutachtens geladen wird, auch dann, wenn das Gericht selbst die Beweisfrage für ausreichend geklärt hält (§§ 397, 402 ZPO). Es sollte also darauf geachtet werden nötigenfalls einen ausdrücklichen Antrag auf Anhörung des Sachverständigen zu stellen.
Rz. 87
Für die Stellung eines Antrages auf Anhörung des Sachverständigen oder Unterbreitung von Ergänzungsfragen kann das Gericht den Parteien gemäß § 411 Abs. 4 ZPO eine Ausschlussfrist setzen, die jedoch angemessen bemessen sein muss. Wird eine solche Frist nicht gesetzt, kann der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen auch noch im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellt werden, der auf die Erstattung des Gutachtens folgt, sofern die Diskrepanz im Verständnis des Gutachtens erst in der mündlichen Verhandlung deutlich wird. Die Partei ist nicht verpflichtet, den Katalog von Fragen schriftlich zu formulieren, den sie dem Sachverständigen zu stellen beabsichtigt. Allerdings ist der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen zu begründen, wenn das schriftliche Gutachten vollständig und überzeugungsfähig ist. Der Antrag darf schließlich nicht rechtsmissbräuchl...