Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 438
Der Versicherungsnehmer darf regelmäßig auf die fachliche Kompetenz des Agenten vertrauen, wenn dieser ihm erklärt, bestimmte Beschwerden oder Erkrankungen müssten nicht in den Antrag aufgenommen werden. Die Grenze ist jedoch dort erreicht, wo sich dem Antragsteller aufdrängt, dass es um gefahrerhebliche Umstände geht. In Ausnahmefällen muss sich der Antragsteller das Fehlverhalten des Versicherungsvertreters also zurechnen lassen. Hiervon ist auszugehen, wenn ein evidenter Missbrauch der Vertretungsmacht vorliegt, also der Vertreter diese in einer Weise missbraucht, dass sich beim Antragsteller die Besorgnis aufdrängen muss, das Verhalten könne als Verstoß des Vertreters gegen seine Treuepflichten gegenüber dem Versicherer zu werten sein. Hierbei ist ein objektiver Maßstab anzulegen und nicht darauf abzustellen, ob der Versicherungsnehmer beispielsweise besonders dumm und leichtgläubig ist.
Rz. 439
Ein kollusives Zusammenwirken des Agenten mit dem Antragsteller muss sich der Versicherer entgegen den Grundsätzen der Auge- und Ohr-Rechtsprechung nicht zurechnen lassen. Der Versicherer muss jedoch das kollusive Zusammenwirken beweisen. Es gilt keine generelle Vermutung dafür, dass ein Versicherungsagent sich bei Antragsaufnahme unredlich verhalten hat. Provisionsinteressen oder eine beabsichtigte Kundenbindung können jedoch im Einzelfall für ein unredliches Verhalten des Agenten sprechen.
Es kommt häufig vor, dass Versicherungsnehmer zwar von Beschwerden, früheren Krankschreibungen, sogar Operationen berichten, der Agent aber erklärt, dies alles brauche nicht aufgenommen zu werden, wenn aktuell keine Beschwerden aufträten. In solchen Fallgestaltungen gehen die Gerichte regelmäßig nicht von einem kollusiven Zusammenwirken zwischen Versicherungsnehmer und Agent aus. Auch in Fällen, in denen der Versicherer nicht widerlegen kann, dass der Versicherungsnehmer dem Agenten im Rahmen wiederholter Gespräche ("Kaltaquise") seine Krankengeschichte offenbart hat, liegt kein kollusives Zusammenwirken vor; das ggf. unredliche Verhalten des Agenten in Gestalt der Nichtabfrage der Gesundheitsfragen ist dem Versicherungsnehmer nicht zuzurechnen.
Rz. 440
Besonders bei Verschweigen oder Verharmlosen von gravierenden Erkrankungen muss der Versicherte indes Zweifel an der Redlichkeit des Vertreters hegen. Dabei kann der Übergang zu einem (ggf. stillschweigenden) kollusiven Zusammenwirken zwischen Antragsteller und Versicherungsvertreter fließend sein. Entscheidend ist, ob der Versicherungsnehmer Kenntnis des unredlichen Verhaltens des Agenten hat.
Beispiele
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Berichtet der Versicherungsnehmer dem Agenten bei Antragstellung davon, dass er an der linken Hand eine Arthrose habe, krankgeschrieben sei und früher bereits an der rechten Hand wegen eines Karpaltunnelsyndroms operiert wurde, muss sich dem Versicherungsnehmer ein Vollmachtmissbrauch aufdrängen, wenn er bemerkt, dass der Agent diese Erklärungen nicht eingetragen hat, weil er annahm, der Agent wolle "eine Versicherung verkaufen". |
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Der Versicherungsnehmer erkennt, dass der Agent seine Angaben über längerfristig ärztlich behandelte Rückenschmerzen nicht in den Vertrag aufnimmt und geht davon aus, der Agent hätte diese Angaben "zu seinem Wohle" nicht aufgenommen. |
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Eine missbräuchliche Ausnutzung der Vertretungsmacht muss sich dem Versicherungsnehmer aufdrängen, wenn er dem Agenten einen früher erlittenen Herzinfarkt anzeigt und dieser daraufhin erklärt, dass er dies "gar nicht wissen wolle". |
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Der Versicherungsnehmer beantwortet alle Fragen des Agenten zutreffend und gibt einen Herzinfarkt, Zuckerkrankheit, chronische Darmerkrankung mit Darmoperation an. Der Agent trägt jedoch ausschließlich einen grippalen Infekt ein, mit der Begründung, bei "so kleinen Lebensversicherungen" müssten Erkrankungen nicht in den Antrag aufgenommen werden. |
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Teilt ein Agent vor Antragsannahme mit, der Versicherungsnehmer solle mit dem Antrag warten, bis eine Erkrankung abgeheilt sei und wurde sodann im Antragsformular die "ausgeheilte" Erkrankung nicht erwähnt, braucht der Versicherungsnehmer jedoch nicht von einem unredlichen Verhalten des Agenten auszugehen. |
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Wenn der Versicherungsvertreter dem Versicherungsnehmer erklärt hat, "wenn er das alles aufnehmen würde, bräuchte er den Antrag gar nicht zu stellen", ist evidenter Vollmachtsmissbrauch gegeben. |
Rz. 441
Der Versicherungsnehmer kann dem Vorwurf des arglistigen Verschweigens gefahrerheblicher Umstände nicht entgegenhalten, er habe den Antrag "blanko" unterschrieben und der Vermittler habe den Versicherungsantrag anschließend ausgefüllt. Hierbei spielt es keine Rolle, ob der Vermittler ihm mündlich angegebene Vorerkrankungen dann (angeblich) abredewidrig nicht eingetragen hat oder ob dieser überhaupt keine Kenntnis von ihnen hatte.