Rz. 159
Große steuergestalterische Spielräume entstehen im Bereich des § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG dadurch, dass der mit dem Nominalwert zu versteuernde Pflichtteilsanspruch durch anderes Vermögen ersetzt werden kann, das mit niedrigeren Werten besteuert wird bzw. andere erbschaftsteuerliche Vorteile mit sich bringen kann. Dies gilt insbesondere für Vermögensgegenstände i.S.d. §§ 13a, 13b ErbStG, also bei Übertragung von Betrieben, Mitunternehmeranteilen, Teilbetrieben sowie Anteilen an Kapitalgesellschaften i.S.d. § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG. Ist in den Fällen des § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG als Abfindung die Übertragung der vorstehenden Betriebsvermögensarten vorgesehen, könnten potenziell der zusätzliche Betriebsvermögensfreibetrag i.H.v. 150.000 EUR sowie der Bewertungsabschlag i.H.v. 85 % oder 100 % für den Pflichtteilsberechtigten fruchtbar gemacht werden. Ob dies möglich ist, ob also die Vorteile der §§ 13a, 13b ErbStG auch bei Hingabe von entsprechendem Betriebsvermögen als Abfindung für den Verzicht eines Pflichtteilsanspruchs möglich ist, war bisher jedoch umstritten.
Rz. 160
Die Problematik lässt sich am besten anhand des folgenden Beispiels erläutern:
Beispiel
Erblasser E hinterlässt einen Nachlass von 10 Mio. EUR, seine Ehefrau mit einem Eigenvermögen von 10 Mio. EUR und zwei bereits volljährige Kinder, die noch nicht über nennenswertes Vermögen verfügen. Aus alten Zeiten stammt das gemeinsam mit seiner Ehefrau abgeschlossene Berliner Testament. Als der Erbfall eintritt, sind alle Beteiligten über die eingetretene Erbfolge und deren Steuerfolgen geschockt. Der Berater rät den Beteiligten zu vereinbaren, dass die Frau gegen Verzicht auf den Pflichtteil
als Abfindung gem. (§ 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG) auf ihre Kinder überträgt. Gesagt, getan.
Rz. 161
§ 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG fingiert, dass das als Abfindung hingegebene Vermögen als vom Erblasser unmittelbar erworben gilt. Zivilrechtlich vollzieht sich dabei der Erwerb in der Weise, dass das Vermögen zunächst auf den Ehegatten übergeht und anschließend dinglich durch Übertragung auf die Kinder erfüllt werden muss. So muss beispielsweise das Familienheim im Beispiel im Wege der Auflassung gem. § 925 BGB auf die Kinder übertragen werden. Ein "Vonselbsterwerb" tritt insoweit nicht ein. Dieser unmittelbare "Vonselbsterwerb" wird allerdings erbschaftsteuerlich fingiert.
Rz. 162
Die Finanzverwaltung lehnte in der Vergangenheit zunächst in R 55 Abs. 4 ErbStR 2003 eine Begünstigung des Erwerbers des Betriebsvermögens als Abfindung ab und sah stattdessen die Übertragung des Vermögens als unschädlichen Vorgang für die Haltefristen des § 13a Abs. 5 ErbStG a.F. an, R 62 Abs. 2 Nr. 4 ErbStR 2003. Die Finanzverwaltung vertritt insoweit in RE 13a.12 (3) ErbStR (2019) und Abschnitt 13a.11 des koordinierten Ländererlasse vom 22.6.2017 eine abweichende Ansicht und hält die Ausschlagung gegen Abfindung für einen haltefristschädlichen Vorgang (§ 13a Abs. 12 ErbStG n.F.), der zu einer unprivilegierten Nachbesteuerung des erworbenen Vermögens beim abgebenden Erben führen soll. Dies ist insbesondere von Bedeutung, wenn der ausschlagende Erbe oder der Pflichtteilsberechtigte zur Abfindung für den Verzicht auf den Pflichtteil oder die Ausschlagung begünstigtes Betriebsvermögen erhält. Zutreffend ist daran, dass in den Beispielen der Ehegatte bei Weggabe des Betriebes oder Familienheims dessen steuerliche Privilegien nicht erhalten kann.
Rz. 163
Die Frage, ob der eigentliche Erwerber des begünstigten Betriebsvermögens in den Genuss der §§ 13 Abs. 1 Nr. 4b, 4c, 13a, 13b, 19a ErbStG gelangt, ist im Beispiel sowohl für das Familienheim als auch für das Betriebsvermögen zu bejahen. Die frühere gegenteilige Ansicht der Finanzverwaltung ist nicht mehr haltbar. Sie würde dazu führen, dass entgegen den Zielen des Gesetzgebers gar kein Erwerber begünstigtes Betriebsvermögen bzw. das Familienheim bekäme, obwohl der Betrieb fortgeführt und das Familienheim zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird.
Rz. 164
Erwirbt ein Erbe Betriebsvermögen in beträchtlichem Ausmaß, so bedeutet dies noch längst nicht, dass seine Liquidität und sein Wertzuwachs in annähernd dem Maße zunehmen, in dem es zunehmen würde, wenn ihm der gleiche Verkehrswert in Bargeld zugewandt worden wäre. Diese Erkenntnis und diese Logik gelten im gleichen Maße auch für den Fall, dass im ersten Schritt der Erbe vom Erblasser das Betriebsvermögen erbt. Führt anschließend jedoch der Erbe den Betrieb nicht selbst fort, sondern überträgt er ihn zur Abfindung für den Verzicht von Pflichtteilsansprüchen auf den Pflichtteilsberechtigten und führt dieser den Betrieb anschließend, wie in § 13a Abs. 6 ErbStG vorgesehen, fort, so trifft die Wertminderung aufgrund der Sozialgebundenheit nicht mehr den Erben, sondern den Pflichtteilsberechtigten. Daher sprechen die besseren Gründe dafür, im Rahmen des § 3 Abs. ...