Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
aa) Weisungsgebundenheit und Eingliederung
Rz. 878
Mit dem "Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit" wurde klargestellt, dass die wesentlichen Grundsätze zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit als freier Mitarbeiter sowie der Amtsermittlungsgrundsatz in der Sozialversicherung unverändert weitergelten.
Die sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung ist nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV definiert:
Beschäftigung ist die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.
Der Begriff des Beschäftigungsverhältnisses ist allerdings weiter gehender als der Begriff des Arbeitsverhältnisses und umfasst auch Fälle, in denen ein Arbeitsverhältnis nicht vorliegen muss, wie z.B. bei GmbH-Geschäftsführern.
Die von der Rspr. der Sozialgerichtsbarkeit entwickelten typischen Merkmale einer Beschäftigung – die Weisungsgebundenheit und die betriebliche Eingliederung – sind ab 1.1.1999 durch Ergänzung des § 7 Abs. 1 SGB IV durch S. 2 wie folgt im Gesetz eingefügt:
Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
Rz. 879
Dabei soll es sich, wie ausdrücklich genannt, um Anhaltspunkte, also nicht um abschließende Bewertungskriterien handeln (BT-Drucks 14/1855, 10). Auch wenn es sich nicht um abschließende Bewertungskriterien handelt, so handelt es sich im Regelfall um typische Merkmale einer Beschäftigung (vgl. LSG Baden-Württemberg v. 16.7.2021 – L 4 BA 75/20, juris Rn 56).
Rz. 880
Praxishinweis
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Diese recht unscharfe Gesetzeslage führt dazu, dass vielfach – zumindest in schwierigen Abgrenzungsfällen – die letztlich von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit vorzunehmenden Entscheidungen zur Sozialversicherungspflicht oder Sozialversicherungsfreiheit auf dem Weg durch die Instanzen kaum sicher vorherzusehen sind. |
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Erschwerend kommt hinzu, dass kein vollständiger Gleichklang des sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigtenbegriffs mit dem Begriff in anderen Rechtsgebieten, wie dem Arbeits- und Steuerrecht, besteht. |
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Die Praxis muss mit erheblichen Rechtsunsicherheiten arbeiten. |
Rz. 881
§ 7 Abs. 1 SGB IV gilt – auch nach dem zum 1.4.2017 neu in das BGB eingefügten § 611a BGB (s. oben Rdn 769) – unverändert. Es wurde seitens des Gesetzgebers ausdrücklich kein Gleichklang zwischen dem Arbeitnehmerbegriff des Arbeitsrechts (§ 611a BGB) und dem Beschäftigtenbegriff des Sozialversicherungsrechts (§ 7 Abs. 1 SGB IV) herbeigeführt. Diese Chance hat der Gesetzgeber verpasst. Es wird weiterhin unterschiedliche Entscheidungen der jeweiligen Gerichtszweige geben. Aus der Gesetzesbegründung zu § 611a BGB folgt eine völlige Abkehr des Gesetzgebers von den Überlegungen zu einem einheitlichen rechtsübergreifenden Status-Verständnis, der sinnvollerweise auch das Steuerrecht hätte mit einbeziehen sollen. Wörtlich heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 611a BGB: "Soweit andere Vorschriften eine abweichende Definition des Arbeitnehmers, des Arbeitsvertrages oder des Arbeitsverhältnisses vorsehen, um einen engeren oder weiteren Geltungsbereich dieser Rechtsvorschriften festzulegen, bleiben diese unberührt" (vgl. BR-Drucks 294/16 v. 2.6.2016 zu Art. 2 – Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches). Die noch im ersten Referentenentwurf des BMAS v. 16.11.2015 enthaltenen "Bemühungen" zur Vereinheitlichung für das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht (Vermutungsregelung des § 611a Abs. 3 BGB RefE-I.) wurden im zweiten Entwurf aufgegeben. Sogar der im ersten Entwurf zu § 611a BGB enthaltene Begriff der "Eingliederung", der wörtlich im Gesetzestext zum sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsbegriff in § 7 Abs. 1 SGB IV enthalten ist, wurde im zweiten Entwurf zu § 611a BGB gestrichen (vgl. Uffmann, NZA 2016, Editorial, Heft 5). Dies bedeutet, dass es unverändert keinen einheitlichen Arbeitnehmer-Begriff für alle betroffenen Rechtsgebiete (Arbeits-, Steuer- und Sozialversicherungsrecht) gibt. Die Praxis stellt dies vor große Herausforderungen (vgl. für das Arbeitsrecht oben Rdn 768 ff.; vgl. für das Steuerrecht unten Rdn 999 ff.
Hinweis nach LSG Berlin-Brandenburg v. 23.6.2022 – L 4 BA 52/18, Rn 111)
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Der Begriff der Beschäftigung i.S.v. § 7 Abs. 1 SGB IV ist nur teilweise identisch mit dem arbeitsrechtlichen Begriff des Arbeitnehmers (vgl. § 611a BGB; vgl. BSG v. 4.6.2019 – B 12 R 12/18 R, juris Rn 22) und dem steuerrechtlichen Begriff der nichtselbstständigen Arbeit (etwa i.S.v. § 19 EStG). |
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Die hierzu jeweils ergangene Rechtsprechung des BAG und des BFH ist daher für die Auslegung spezifisch sozialversicherungsrechtlicher Begriffe nicht ausschlaggebend. |
(Hervorhebungen des Verfassers)
bb) Persönliche Abhängigkeit
Rz. 882
Entscheidend für die sozialversicherungsrechtliche Abgrenzung bleiben im Ergebnis die von der Rspr. der Sozialgerichtsbarkeit entwickelten Kriterien. Arbeitnehmer i.S.d. Sozialversicherungsrechtes (= Beschäftigter) ist danach, wer von einem Arbeitgeber persönlich abhängig ist (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. BSG v. 19.10.2021 – B 12 R 10/20 R, juris Rn 2...