Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 451
Ein Wegfall oder eine Kürzung von Gratifikationen oder Sonderzahlungen kommt im Allgemeinen nicht in Betracht, wenn sich die Geschäftslage des Betriebes des Arbeitgebers erheblich verschlechtert hat oder der Arbeitgeber sich in einer wirtschaftlichen Notlage befindet (vgl. LAG Hamm v. 13.9.2004 – 8 Sa 721/04). Lediglich bei gewinnabhängigen Sonderzahlungen oder bei freiwillig erbrachten unterschiedlich hohen Sonderzahlungen, die jeweils von Jahr zu Jahr nach billigem Ermessen an der Geschäftslage des Betriebes orientiert sind, kann der Arbeitgeber berechtigt sein, Gratifikationszahlungen zu kürzen oder ganz zu verweigern (vgl. BAG v. 20.2.2008 – 10 AZR 119/07).
Rz. 452
Beruht die Gratifikationszahlung hingegen auf einem auch der Höhe nach festgelegtem Rechtsanspruch, kommt eine Kürzung oder ein Wegfall der Gratifikation auch bei wirtschaftlicher Notlage des Arbeitgebers im Allgemeinen nicht in Betracht. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie unter der stillschweigenden Bedingung einer günstigen Wirtschaftslage des Arbeitgebers steht. Insb. die Zahlung von tariflich abgesicherten Gratifikationsansprüchen kann der Arbeitgeber nicht wegen wirtschaftlicher Notlage aus Gründen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage einseitig verweigern (LAG Hamm v. 13.9.2004 – 8 Sa 721/04). Ein etwaiger Verzicht des Arbeitnehmers ist nach § 4 Abs. 4 S. 1 TVG unwirksam. Bei tariflichen Sonderzahlungen ist ein Verzicht nur mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien möglich. Die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage können auf normative Regelungen eines Tarifvertrages nicht ohne weiteres angewandt werden. Gibt es im Tarifvertrag keine Öffnungs- oder Härteklausel, ist es Sache der Tarifvertragsparteien, in Fällen wirtschaftlicher Notlage einzugreifen und zu einer Lösung zu kommen (BAG v. 15.3.2000 – 10 AZR 745/98; zur Anwendung einer tariflichen Härteklausel vgl. auch LAG Hamm v. 20.8.1999 – 10 Sa 483/99). Eine auf einer Betriebsvereinbarung beruhende Gratifikationszahlung kann dadurch beseitigt werden, dass der Arbeitgeber die freiwillige Betriebsvereinbarung ohne Nachwirkung kündigt. Bei einzelvertraglichen Sonderzuwendungen ist der Arbeitgeber regelmäßig auf den Weg der Änderungskündigung oder einer Aufhebungsvereinbarung zu verweisen.
Rz. 453
Auch auf Gratifikationszahlungen, die auf betrieblicher Übung beruhen, besteht ein vertraglicher Anspruch, der nur durch Änderungsvertrag oder Änderungskündigung beseitigt werden kann. Insb. kommt kein Rückgriff auf den allgemeinen Rechtsgedanken von Treu und Glauben, die arbeitsvertragliche Treuepflicht des Arbeitnehmers und den Gesichtspunkt der Solidarität der Belegschaft zur Einschränkung der Zahlung von Sondervergütungen in Betracht. Die Rechtsordnung stellt den Vertragspartnern zur Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen verschieden ausgeformte Rechtsinstitute, wie die Verankerung von Freiwilligkeits- oder Widerrufsvorbehalten und insb. die (außerordentliche) Änderungskündigung zur Verfügung. Da damit die Gewährung von Sonderzuwendungen an den Vorbehalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers geknüpft werden kann und sich diese Gestaltungsmöglichkeiten durchaus als ausreichend erweisen, scheidet ein derartiger Rückgriff aus (LAG Hamm v. 13.9.2003 – 8 Sa 721/04; LAG Hamm v. 9.2.1996 – 10 Sa 1185/95; LAG München v. 6.5.1997 – 4 Sa 736/95; ArbG Celle v. 30.7.1998 – 1 Ca 356/98; entgegen BAG v. 17.4.1957 – 2 AZR 411/54; BAG v. 26.10.1961 – 5 AZR 470/58).
Rz. 454
Der Gratifikationsanspruch wird auch nicht durch Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers beseitigt (BAG v. 17.4.1957 – 2 AZR 411/54), da nicht allein die Arbeitnehmer zur Sanierung des Unternehmens beizutragen haben.