Rz. 343
In den meisten Rechtsordnungen, die ein materielles Noterbrecht vorsehen, ist der von der Erbfolge testamentarisch ausgeschlossene Noterbe nicht ipso iure am Nachlass dinglich beteiligt. Vielmehr muss er zunächst durch entsprechende Maßnahme (Erklärung gegenüber den Erben, Bewirken eines gerichtlichen Gestaltungsurteils) eine Reduktion der testamentarischen Verfügungen bewirken. Umstritten ist die Formulierung des Erbscheins bei testamentarischer Erbfolge, wenn die Möglichkeit einer Herabsetzungsklage mangels Ablaufs der hierfür vorgesehenen Frist weiterhin besteht, ein derartiges Verfahren aber noch nicht abgeschlossen oder erst gar nicht eingeleitet worden ist. So wurde vorgeschlagen, die Noterben bereits zu ihren Noterbquoten in den Erbschein aufzunehmen, auch wenn die Herabsetzung noch nicht erfolgt ist. Das wäre verfehlt, denn man kann weder den Noterbberechtigten die Beteiligung am Nachlass aufdrängen noch einen Erbschein erstellen, der die Erbquoten in einer Weise darstellt, die der aktuellen materiellen Rechtslage nicht entspricht.
Rz. 344
Nach anderer Ansicht ist die Ausstellung eines Erbscheins – zumindest teilweise – unmöglich. Daher sei das Erbscheinsverfahren so lange auszusetzen, bis eine entsprechende gerichtliche Entscheidung ergangen ist, die Frist für die Geltendmachung der Noterbrechte verstrichen ist oder die Berechtigten auf ihr Noterbrecht verzichtet haben. Die Beteiligten werden darauf verwiesen, dass sie ja über die disponible (noterbrechtsfreie) Quote einen Teil- oder Mindesterbschein beantragen könnten.
Rz. 345
Freilich ist ein derartiges Verfahren den Beteiligten aber nicht zumutbar. So können z.B. bei Geltung italienischen Erbstatuts die Noterben ihren Pflichtteil bis zu zehn Jahre nach dem Erbfall geltend machen. Im schlimmsten Fall müssten die testamentarischen Erben also zehn Jahre lang warten, bis ein Erbschein über den gesamten Nachlass ausgestellt werden könnte. Ein derartiges Vorgehen verstieße gegen das deutsche Verfahrensrecht. Zwar hat das Herabsetzungsurteil – z.B. nach italienischem Recht – Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Eintritts des Erbfalls; auch Verfügungen der testamentarischen Erben würden nachträglich unwirksam. Solange das Herabsetzungsurteil nicht ergangen ist, ist das Testament jedoch wirksam – genau wie ein irrtumsbehaftetes Rechtsgeschäft, das nicht angefochten worden ist. Die Testamentserben haben daher m.E. einen Anspruch auf Erteilung eines Erbscheins, der ihr Erbrecht entsprechend den testamentarischen Quoten dokumentiert.
Rz. 346
Die früher wohl überwiegende Auffassung geht zwar davon aus, dass den Testamentserben ein Erbschein entsprechend den vollen testamentarischen Erbquoten erteilt werden müsse. Nach Rechtskraft des Urteils über die Herabsetzung der testamentarischen Erbquoten wäre dieser als unrichtig einzuziehen. Die Interessen der Noterben seien dadurch zu wahren, dass diese vor Ausstellung des Erbscheins zu einer Erklärung darüber aufgefordert werden, ob sie ihre Rechte geltend machen wollen. Ist die Herabsetzungsklage bereits bei einem international zuständigen Gericht anhängig oder machen die Noterben auf die Mitteilung des Nachlassgerichts hin eine entsprechende Klage anhängig, sei das Erbscheinsverfahren auszusetzen bzw. dem testamentarischen Erben sei über die ihm auch unter Berücksichtigung der Noterbrechte noch zustehende Quote ein Teilerbschein zu erteilen. Denn in diesem Fall ist das Ende des Schwebezustands absehbar, und die Noterben haben ihrerseits alles getan, diesen zu beenden.
Der Erbschein müsse aber einen ausdrücklichen Vorbehalt dahingehend enthalten, dass die Erbenstellung "unter dem Vorbehalt der Herabsetzungsklage" stehe. Damit dies nicht zu einer Verunsicherung des Rechtsverkehrs führe, sei auszuführen, welchen Verfügungsbeschränkungen der Testamentserbe nach dem einschlägigen Erbstatut unterliege. Der Erbschein sei einzuziehen, sobald die Noterbrechte in wirksamer Weise geltend gemacht worden seien. Ist umgekehrt die Frist ungenutzt verstrichen oder haben die Berechtigten auf die Geltendmachung unwiderruflich verzichtet, könnten die testamentarischen Erben die Ausstellung eines Erbscheins ohne einen entsprechenden Vorbehalt verlangen. Entsprechend verfährt offenbar auch die französische notarielle Praxis bei der Ausstellung von Europäischen Nachlasszeugnissen und nationalen actes de notoriété, die in Frankreich die Aufgaben des deutschen Erbscheins ersetzen.
Rz. 347
Diese Auffassung übersieht zunächst, dass die tatsächliche Höhe der Beteiligung der Noterben am Nachlass zu diesem Zeitpunkt noch nicht ermittelt werden kann. Die – leicht ermittelbare – Pflichtteilsquote bezieht sich nämlich nicht auf den hinterlassenen, sondern den ergänzten Nachlass. Das bedeutet, dass der Pflichtteilserbe also bei erheblichen ergänzungspflichtigen Schenkungen u.U. den gesamten Nachlass beanspruchen kann, bei erheblichen anrechenbaren Vorschenkungen u.U. keinerlei Ansprüche mehr hat. Ein unter eine...