Rz. 70
Nach § 103 VVG haftet der Versicherer nicht, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich und widerrechtlich den beim Dritten eingetretenen Schaden herbeigeführt hat. Nach h.M. muss der Versicherungsnehmer in seinen Vorsatz nicht nur die schädigende Handlung, sondern auch den Erfolg, d.h. den Schaden, aufgenommen haben, wenn der Versicherer nach § 103 VVG leistungsfrei sein soll. Die volle Beweislast für diesen Vorsatz liegt beim Versicherer. Er trägt an dieser Last schwer, denn häufig wird er die innere Tatsache, dass sich der Versicherungsnehmer auch den Schaden vorgestellt und diesen gewollt hat, nicht beweisen können. Immerhin darf der Versicherer unterstellen, dass die fundamentalen Regeln und Vorschriften des jeweiligen Berufs bekannt sind; im Wege des Indizienbeweises kann aus Art und Gewicht des Pflichtenverstoßes auf das Maß der Vorwerfbarkeit geschlossen werden. Wenn die jeweilige Pflichtverletzung kaum anders als vorsätzlich begangen werden kann und andere Erklärungen weit außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegen, dann kann nach einem Urteil des OLG Köln auch auf den inneren Tatbestand der Wissentlichkeit geschlossen werden.
Rz. 71
Von der dispositiven gesetzlichen Regelung des § 103 VVG weicht § 4 Nr. 5 AVB in zwei Richtungen hin ab, wie es in § 51 Abs. 3 Satz 1 BRAO vorgesehen ist. Der Eintritt des Schadens braucht nicht vom Vorsatz erfasst zu sein. Zu den Tatbestandsmerkmalen des Risikoausschlusses gehört nicht, dass der Versicherte den schädigenden Erfolg des Pflichtenverstoßes als mögliche Folge vorausgesehen und billigend in Kauf genommen hat. Es genügt, dass der eingetretene Schaden auf der Pflichtverletzung beruht. Der Anwalt hat also selbst dann keinen Versicherungsschutz, wenn er überzeugt war oder hoffte, durch sein Handeln – oder Unterlassen – werde kein Schaden entstehen. Es genügt allerdings, wenn die wissentliche Pflichtverletzung den Schaden mit verursacht hat, auch wenn weitere fahrlässig begangene Pflichtverletzungen im Raum stehen, die denselben Schaden ausgelöst haben. Der Versicherungsnehmer soll nicht davon profitieren, dass er zusätzlich noch weitere Pflichtverletzungen begangen hat, die für sich genommen den Versicherungsschutz ausgelöst hätten.
Rz. 72
Die schädigende Handlung, also die Pflichtverletzung, erfordert Vorsatz. Allerdings reicht – im Vergleich zu § 103 VVG – bedingter Vorsatz als Verschuldensform nicht aus. Die Ausschlussklausel fordert mit der Formulierung "wissentliche" Pflichtverletzung dolus directus, sodass die Abweichung vom Gesetz an dieser Stelle zugunsten des Versicherungsnehmers ausschlägt. Eine wissentliche Pflichtverletzung kann nur begehen, wer die verletzte Pflicht positiv kennt. Hält der Anwalt es nur für möglich, dass eine Pflicht bestimmten Inhalts besteht und handelt er dieser nur für möglich gehaltenen Pflicht zuwider, hat er die Voraussetzung einer wissentlichen Pflichtverletzung nicht erfüllt. Auch wer sich über das Bestehen einer Rechtspflicht oder deren Inhalt irrt, handelt nicht bewusst pflichtwidrig. In solchen Fällen ist der Versicherungsnehmer für den Rechtsirrtum auch nicht beweisbelastet.
Rz. 73
Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatbestandsvoraussetzungen des Risikoausschlusses trägt der Versicherer. Er muss also darlegen, dass es für den Anwalt eine bindende Anweisung oder Bedingung des Auftraggebers gegeben hat. Er muss darlegen, dass und inwiefern der Anwalt eine konkrete Pflicht hatte, die er verletzt hat. Ein derartiger Pflichtverstoß lässt sich nur dadurch geltend machen, dass der Versicherer aufzeigt, wie sich der Versicherte hätte verhalten müssen. Für einen bewussten Pflichtverstoß muss darüber hinaus dargelegt werden, der Versicherte habe gewusst, wie er sich hätte verhalten müssen. Wusste der Versicherte gar nicht, was er hätte tun oder unterlassen müssen, um dem Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens zu entgehen, kommt ein bewusster Pflichtverstoß nicht in Betracht. Der Anscheinsbeweis bleibt in diesem Bereich unanwendbar. I.d.R. ist aber davon auszugehen – will man nicht lebensfremd werden –, dass der Versicherte die allgemeinen Vorschriften kennt, die seinen Beruf betreffen.
Rz. 74
§ 4 Nr. 5 AVB ist nach überwiegender Meinung ein subjektiver Risikoausschluss und keine verhüllte Obliegenheit. § 6 VVG ist also nicht anwendbar (vgl. Rdn 56). Die Regelung des § 4 Nr. 5 AVB benachteiligt den Versicherungsnehmer nicht unangemessen und ist deshalb mit § 307 BGB vereinbar. Wichtig ist diese Unterscheidung für die Rechte Dritter. Auf Risikoausschlüsse kann sich der Versicherer auch ggü. dem Geschädigten berufen, der Deckungsansprüche gepfändet hat oder im Wege des Direktanspruchs nach § 115 VVG vorgeht. Obliegenheitsverletzungen können dem Geschädigten in diesen Fällen in der Pflichtversicherung hingegen nicht entgegengehalten werden (näher dazu vgl. Rdn 150).
Rz. 75
Beispiele aus der Praxis
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Das unordentliche Führen von Akten und Handakten re... |